Unerwartete Transformation

„Transformation“ meint einen Umbau der Gesellschaft in nahezu allen Lebensbereichen, von unserer Umwelt über die Privathaushalte bis zu den Arbeitsplätzen der Menschen. Die Rede ist in dem Zusammenhang von mehreren gleichzeitig ablaufenden, ineinander verwobenen Entwicklungen: Digitalisierung, Dekarbonisierung, Demografie und als neuere Entwicklung die De-Globalisierung. Wie effektiv politische Maßnahmen erscheinen, hängt auch von deren Vermittlung ab und wer dafür bezahlt, ist umstritten.

Politik mit glaubhaften Maßnahmen

Forscher:innen der Harvard University haben Mitte Juli die Ergebnisse einer internationalen Studie 1Dechezleprêtre, Antoine; Fabre, Adrien; Kruse, Tobias; Planterose, Bluebery; Sanchez Chico, Ana; Stantcheva, Stefanie: Fighting Climate Change: International Attitudes Toward Climate Policies. Harvard 2022, online unter https://scholar.harvard.edu/files/stantcheva/files/international_attitudes_climate_change.pdf (abgerufen am 29. 7. 2022). veröffentlicht. Über 40.000 Menschen in 20 Ländern,2Vgl. ebd., S. 3. Zu den untersuchten Ländern zählen neben den wirtschaftlich stärksten Mitgliedsstaaten der EU Kanada, die USA, Mexiko, Indien, China, Südafrika und Brasilien. die für insgesamt 72 Prozent des globalen CO2-Ausstoßes verantwortlich sind, wurden nach ihren Einstellungen zum Klimawandel und zu klimapolitischen Maßnahmen befragt. Die Ergebnisse sind interessant: Länderübergreifend hängt die Zustimmung zu von einer Regierung ergriffenen klimapolitischen Maßnahmen davon ab, in wie weit diese Maßnahmen glaubhaft vermittelt werden. 

Die Zustimmung oder Ablehnung von Maßnahmen der Klimapolitik hängt danach im Wesentlichen an drei Faktoren: Wie effektiv werden mit den Maßnahmen Emissionen gesenkt (effectiveness concerns), welche Auswirkung auf die Verteilungsgerechtigkeit oder -ungerechtigkeit haben die Maßnahmen besonders für Haushalte mit niedrigem Einkommen (inequality concerns) und wie wirken sich die Maßnahmen auf den Haushalt der Befragten aus (self-interest). 

Wird gemeinhin als schlecht angesehen: Heizen bei offenem Fenster. Foto: Julian Hochgesang bei unsplash

Das Erklären, wie politische Maßnahmen funktionieren und wie sie sich besonders auf diese drei Kernbereiche auswirken, trägt wesentlich zur Akzeptanz von Klimapolitik bei, lautet ein Hauptergebnis der Untersuchung. Beziehungsweise: Information darüber, warum welche Maßnahme ergriffen wurde und wie sie umgesetzt wird, hilft dabei, dass diese klimapolitische Maßnahme akzeptiert wird und klimapolitische Bemühungen insgesamt Unterstützung aus der Bevölkerung erfahren. Einfach nur über die Folgen des Klimawandels zu informieren reiche dagegen nicht aus, heißt es in dem Papier. Überdies haben die Wissenschaftler:innen herausgefunden, dass mehrere sozioökonomische und lebensweltliche Faktoren wie der Bildungsgrad, politische Einstellungen und die Verfügbarkeit von öffentlichen Verkehrsmitteln den Blick auf klimapolitische Maßnahmen mit prägen. 

Das Interesse, mit dem die Forscher:innen an die Arbeit gegangen sind, war die Frage, was weltweit die Unterstützung oder Ablehnung von notwendigen klimapolitischen Maßnahmen befördert oder schwächt. Sind es die Information und Transparenz der Maßnahmen? Sind die Bürger:innen besorgt, dass sie an ihrem Lebensstil etwas ändern müssen, oder dass sich durch die Maßnahmen die soziale Ungerechtigkeit verschärft? Wie diese Transformation konkret abläuft, ist angewiesen auf die Zustimmung der Bevölkerung – und oft auch angewiesen auf den Druck aus der Bevölkerung, wenn sich Teile von Regierungen zu nah an den Interessen einzelner Wirtschaftsbereiche und zu weit entfernt von einer sinnvollen, nachhaltigen und sozial gerechten Klimapolitik bewegen. 

Ein Realitätscheck zur Transformation

Im politischen Berlin werfen sich Entscheidungsträger:innen Schlagworte an den Kopf und streiten um den besten Weg, die Folgen der in schneller Schlagzahl aufeinander folgenden Systemkrisen abzumildern. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) schlägt etwa zur Abmilderung der Folgen der Energiekrise eine grundlegende Reform des Wohngelds vor, der CDU-Politiker Jens Spahn kritisiert, dies würde zu wenigen Menschen nützen und will einen staatlich garantierten Fixpreis für die ersten 5000 Kilowattstunden. Und die FDP will Hartz-IV-Beziehenden das beim Heizen eingesparte Geld auszahlen. 

Was in der nächsten Heizperiode kommen soll, ist eine Gas-Umlage. Bis Ende August soll die Höhe feststehen. Das berichteten Ende Juli mehrere Medien unter Berufung auf Regierungskreise.3Vgl. z. B. www.tagesschau.de/wirtschaft/gas-umlage-101.html (abgerufen am 30. 7. 2022). Diese Umlage sollen alle Gas-Kund:innen bezahlen. Ihr Zweck: Die Kosten der Gasimporteure, die diese für kurzfristige Alternativen zum russischen Gas aufbringen müssen, werden auf die Endverbraucher:innen umgelegt. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sagte, „sicherlich einige hundert Euro“, würden Bürger:innen berappen müssen. Wenig tröstlich scheint da die zeitliche Befristung der geplanten Umlage vom 1. Oktober 2022 bis 1. April 2023, also auf die Heizperiode. 

Gas wird im Übrigen Brückentechnologie genannt, weil in Deutschland noch nicht genügend Energie aus Wind und Sonne gewonnen wird. Genug Kapazitäten gäbe es, am Aufbau hakt es indes. Anstatt aber durch entschiedenes Regierungshandeln die Bedingungen für deren forcierten Ausbau zu schaffen, denkt man laut über die Verlängerung von Akw-Laufzeiten, E-Fuels und die Gas-Umlage für Endkund:innen nach, darüber, ob nun ein ÖPNV-Ticket neun oder 61 Euro kosten soll und darüber ob Hartz-IV-Beziehende einfach nur mehr Anreize brauchen, um statt bei durchgehenden 23 Grad nur bei 18 Grad Raumtemperatur zu Hause zu sitzen. Gleichzeitig gibt es einen breit kritisierten Tankrabatt, keine Bürgerversicherung, kein Verbot vom Verbrenner und Entlastungspakete, die nicht diejenigen Entlasten, die die Entlastung am dringendsten brauchen. 

Not at all amused zeigte sich beispielsweise der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, Ulrich Schneider angesichts der jüngsten Entwicklungen. Statt eine Gas-Umlage sollte die Bundesregierung lieber die Übergewinnsteuer einführen, für diejenigen, die von Krieg und Krise besonders profitieren. Die Gewerkschaften fordern angesichts der dräuenden Gas-Umlage weitere Entlastungen für Privathaushalte. „Es kann nicht angehen, dass Krisengewinner nunmehr auch noch von jedem Einkaufsrisiko freigestellt werden“, sagte Ulrich Schneider dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“. Mit den Einnahmen aus der Übergewinnsteuer könnten einkommensschwache Haushalte im kommenden Herbst und Winter unterstützt werden, so Schneider. Gasversorger wie RWE4www.handelsblatt.com/unternehmen/energie/energiekonzern-ausserordentlich-gutes-ergebnis-rwe-erhoeht-prognose-um-1-5-milliarden-euro/28553582.html oder Wintershall Dea5Vgl. z. B. www.handelsblatt.com/dpa/wirtschaft-roundup-wintershall-dealegt-trotz-russland-abschreibungen-gewinnsprung-hin/28549554.html (abgerufen am 30. 7. 2022). hatten Ende Juli für das erste und zweite Quartal Milliardengewinne verkündet. 

Was die hier scheinbar beliebig zusammengewürfelten Themen verbindet, ist, dass sie eines zeigen können: Gut erklärte regierungspolitische Maßnahmen, die sozial gerecht, als dem und der Einzelnen vermittelbar und zudem als effektiv wahrgenommen werden, finden sich hier nicht. Laut einer Umfrage des Allensbach-Instituts waren im März dieses Jahres 52 Prozent der Bundesbürger:innen davon überzeugt, dass die klimapolitischen Maßnahmen der rot-grün-gelben Bundesregierung die sozialen Unterschiede in Deutschland vergrößern würden. 

Ein umstrittenes Politikfeld

Die verschiedenen Transformationsprozesse hängen zusammen. Um sie zu bearbeiten werden die einzelnen Themen isoliert und politisch handhabbar gemacht. Das ist ein Weg, um verständliche und als effektiv und umsetzbar erscheinende politische Lösungen zu finden, die auch akzeptiert werden. Wie können Betriebsräte und Gewerkschaften beispielsweise die Einführung neuer Technologien und deren Auswirkungen im Betrieb im Sinne der Beschäftigten regeln und wo muss Politik aktiv werden und Gesetze erlassen? Wie wird im Zuge des demografischen Wandels künftig mit der gesetzlichen Rente umgegangen? Und woher bekommen wir im Zuge der notwendigen Dekarbonisierung künftig unsere Energie und bringen sie in die Haushalte, möglichst klimaneutral und für alle bezahlbar? 

Das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) spricht in einer 2021 veröffentlichten Studie von Digitalisierung, Dekarbonisierung, Demografie und De-Globalisierung als vier „disruptiv wirkenden Trends“ und hat deren Auswirkungen auf Unternehmen untersucht. Zu den wesentlichen Ergebnissen gehört, dass ein Großteil der befragten Unternehmen durch die vier beschriebenen Trends große Auswirkungen auf die eigene Zukunft sieht – unabhängig davon wie groß oder erfolgreich das jeweilige Unternehmen ist. Und diese Betroffenheit steigt stark an, wenn das Unternehmen nicht nur von einem „D“, sondern von mehreren betroffen ist. Beispielsweise sind aus Sicht der Unternehmen IT-Expert:innen für die Entwicklung klimafreundlicher Technologien von großer und wachsender Bedeutung6 Vgl. Fn1, S. 163.  Das wiederum lenkt den Blick auf den Fachkräftemangel, die Weiterbildung und damit den demografischen Wandel. 

Zudem ist es bekanntermaßen auch nicht so, dass Digitalisierung automatisch zur Klimaneutralität führt. So sagte Jens Gröger vom Öko-Institut in Berlin im Oktober 2021 in einem Interview, dass allein private Internetnutzer:innen von 750 Kilogramm bis eine Tonne CO2 pro Person und Jahr produzieren, weil die Rechenzentren, über die unsere Daten laufen alles andere als treibhausarm sind. An der Stelle wird die enge Verbindung von Digitalisierung und Dekarbonisierung deutlich: Durch die wachsende Zahl an im Homeoffice verbrachten Arbeitsstunden und die hohe Zahl an Videokonferenzen ist die Internetnutzung stark angestiegen. Forscher:innen haben an einer mittelgroßen Universität in Großbritannien herausgefunden, dass im ersten Pandemiejahr 2020 die durch den stärkeren Internetnutzung gestiegenen Emissionen die Einsparungen durch wegfallende Arbeitswege und Geschäftsreisen ausgeglichen haben. Fazit: Die CO2-Einsparungen durch Homeoffice und Homeschooling sind weniger signifikant als angenommen.7Archer, Dave; Bellamy, Laura; Smith, Neil; Wintrip, Richard; Filimonau, Viachaslau: The carbon footprint of a UK University during the COVID-19 lockdown. In: Science of the Total Environment, 756/2021. www.science-direct.com/science/article/pii/S0048969720374957 (abgerufen am 31. 7. 2021).

Veränderung des Arbeitsmarktes

Eine der vielen Auswirkungen der Corona-Pandemie ist die Beschleunigung von Digitalisierungsprozessen in der Arbeitswelt, die teilweise schon vor Jahren begonnen haben. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat 2016 untersucht, wie sich die Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt auswirken könnte und ist unter anderem zu dem Schluss gekommen, dass die Zahl der Hilfstätigkeiten potenziell abnehmen wird, dafür aber neue hochqualifizierte Tätigkeiten entstehen werden. Als ein Ergebnis ihrer Betriebsbefragungen betonten die Forscher:innen die Wichtigkeit der Weiterbildung im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung. 

In der Ausgabe 8-9/2022 der SoSi werfen wir einen Blick auf die Auswirkungen der Transformation auf den Arbeitsmarkt. Michael Fischer, Leiter des Bereichs Politik und Planung beim ­ver.di-Bundesvorstand, spricht im Interview8„Transformation betrifft alle – nicht gleichermaßen, aber gleichzeitig“, Interview mit Michael Fischer. In: SozSich 8-9/2022, S. 308f. unter anderem darüber, dass viele der neuen Technologien im laufenden Betrieb eingeführt und erprobt werden, was zu Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen führt, wo diese eigentlich durch die neuen digitalen Möglichkeiten verbessert werden sollen. Zudem würden dadurch, dass im Zuge der Dekarbonisierung und Digitalisierung neue Tätigkeitsfelder und Qualifikationen entstehen, lange schon bestehende Defizite in der Aus- und Weiterbildung sichtbar. 

Der Blick in die Arbeitslosenstatistik zeigt regelmäßig, dass gering Qualifizierte von der niedrigen Arbeitslosigkeit der letzten Jahr wenig profitiert haben. Während die Zahl der Erwerbslosen mit akademischem Abschluss bundesweit nach Landkreisen im Jahr 2021 bei 1 Prozent bis 4,3 Prozent lag, waren es bei Erwerbslosen ohne abgeschlossene Berufsausbildung zwischen 6,9 Prozent und 48,9 Prozent.9Vgl. Bundesagentur für Arbeit: Qualifikationsspezische Arbeitslosenquoten – Deutschland, Länder, Kreise, Regionaldirektionen, Agenturen für Arbeit, Regionen (Jahreszahlen), www.statistik.arbeitsagentur.de/

Matthias Knuth beschreibt in seinem Beitrag, dass die bisherige Arbeitsmarktpolitik auf die Bewältigung der Transformationsprozesse nicht ausgelegt sei und skizziert ein Förderprogramm „Transformation der Arbeitswelt“. Dieses setzt an bei Menschen, die sich und ihre Erwerbsbiografien verändern wollen und müssen und will eingetretene Wege der Arbeitsförderung überwinden – hin zu einer Ermutigung und Ermächtigung von Menschen die sich beruflich verändern wollen und weg von einer Arbeitsförderung, die auf Erwerbsverläufe ausgerichtet ist, „die zu scheitern drohen”10Knuth, Matthias: Arbeitsmarktpolitik in der Transformation. In: SozSich 8-9/2022, S. 311ff.

Ein offener Streit zeigt sich in der Frage, wer für die Transformation bezahlen soll. Sozialverbänden und Gewerkschaften geht es in erster Linie darum, durch Transformationsprozesse und deren Auswirkungen entstandene Härten für die Menschen im Land nicht nur abzumildern. Das Ziel ist, dass ein Umbau der Gesellschaft diese nicht nur klimaneutraler und digitaler, sondern auch sozial gerechter macht. Markus Drescher schreibt in seinem Beitrag11Drescher, Markus: Anwälte des Sozialen. In: SozSich 8-9/2022, S. 317ff.. über aktuelle Initiativen und ein jüngst veröffentlichtes Papier der Arbeiterwohlfahrt unter dem Titel „Den Wandel solidarisch gestalten. Gemeinsam für die sozialökologische Transformation“, in dem die AWO Vorschläge zu CO2-Bepreisung, Wohnen und Energie macht.

Zuerst veröffentlicht in SozSich 8-9/2022, S. 306ff.
www.bund-verlag.de/zeitschriften/soziale-sicherheit