Altersarmut ist weiblich. Die Europäische Ethnologin Irene Götz von der Ludwig-Maximilians-Universität in München hat eine Studie zur Altersarmut von Frauen in Großstädten vorgelegt. Ich sprach mit ihr über die Ergebnisse und was das mit der aktuellen Rentendebatte und der Grundrente zu tun hat.
Die Geschichten der interviewten Frauen in Ihrem neuen Buch sind teilweise sehr bedrückend. Wie schaffen Sie es als Wissenschaftlerin, die Neutralität zu bewahren?
Als Europäische Ethnologinnen arbeiten wir mit Fallstudien und sind eng bei den Interviewten. Da ist es oft sehr schwer, sich wieder in die Distanz zu bewegen. Wir haben die Frauen und wie sich ihre Geschichten verändert haben, teilweise über Jahre verfolgt und haben sie mehrfach besucht. Je tiefer wir in die Fälle eingestiegen sind, desto mehr ist auch bei uns fast eine Hoffnungslosigkeit entstanden. Ihre Verzweiflung und ihre Wut hat sich selbstverständlich auf uns ausgewirkt. Wir haben gesehen, wie diese Frauen hochgradig aktiv sind, um ihre Misere aus eigenen Kräften zu bewältigen, aber strukturell von Gesellschaft und Politik keinerlei Wahrnehmung hatten.
Was heißt das konkret?
Sie müssen sich das so vorstellen: Wir haben vor fünf Jahren mit der Untersuchung begonnen. Da war Altersarmut in der Mainstreampolitik kaum ein Thema. Qualitative Studien zur Altersarmut von Frauen gab es nicht. Wir haben in den Altenberichten der Bundesregierung von Potenzialen des Alters gelesen und von aktiven Alten, die sich einbringen sollen und selber Vorsorge tragen sollen. Auf der anderen Seite kamen das Horrorszenario »Altenlast« und der demografische Wandel als Thema auf.
Eine neoliberale Erzählung …
Sicher. Die Idee, das die Älteren für sich selber sorgen können, war prägend. Sie können im sonnigen Süden Aktivurlaub machen und sich hier als SeniorenbetreuerInnen mit den Hochaltrigen im Krankenhaus beschäftigten. Diese Bilder wurden komplett überbewertet. Diese Diskrepanz hat die von uns untersuchten Frauen hart getroffen.
Und darüber offen zu sprechen, war ein Tabubruch?
Viele der Frauen sind in der Nachkriegszeit oder noch im Krieg in Westdeutschland geboren. Sie haben im Adenauer-Deutschland von kleinauf gelernt, dass es ihre Aufgabe ist, zu Hause zu bleiben und ihren arbeitenden Männern den Rücken freizuhalten. Die Frauen haben gelernt, sich zurückzunehmen. Sie hatten wenig Möglichkeiten, sich zu bilden. Und sie hatten keine Möglichkeit, sich beruflich überhaupt etwas vorzustellen. Darüber wird bisher in der Gesellschaft nicht oder kaum offen geredet. Das sieht man allein an der Dunkelziffer der Frauen, die in Altersarmut leben und keine Grundsicherung beantragen, weil das extrem schambehaftet ist – gerade wenn die Frauen ein Leben lang gearbeitet haben.
Hätten die Frauen aus der Rollenverteilung ausbrechen können?
Viele haben die Volksschule abgeschlossen, um dann nach der Heirat und Familiengründung in Teilzeit zu einem niedrigen Lohn irgendwo in einem Büro zu sitzen. Verbreitet war das Bild des einen Ernährers der Familie, und das war der Mann. Es war gesellschaftlich nicht gewünscht, dass Frauen Vollzeit arbeiten. Frauen, die das taten, wurden als »Rabenmütter« hingestellt. Dazu kam die Gesetzgebung zu Ehescheidungen, die Frauen benachteiligt hat. Sie waren vom Ehemann und seinen Einkünften abhängig. Dazu muss man aber sagen, dass wir noch in den 1960er und 1970er Jahren in Westdeutschland Einkommen hatten, von denen ein Facharbeiter eine Familie ernähren konnte. Das war historisch erstmalig so. Damals war es oft ein Statussymbol, dass die Frau nicht arbeiten gehen musste. Das fällt den Frauen, die geschieden sind, heute auf die Füße. Wir haben für die Interviews gezielt Frauen gesucht und gefunden, die alleine wirtschaften.
Ist Ihnen bei der Unterschiedlichkeit der Frauen auch ein verbindendes Moment aufgefallen?
Je härter die physischen Arbeitsbedingungen waren, desto eher mussten die Frauen mit entsprechenden Abschlägen aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Es sind genau diese Frauen, die jetzt die kleinen Renten haben. Das finde ich, ist ein Skandal – zumal wir auf der anderen Seite Spitzeneinkommen in Deutschland haben, die deutlich höher besteuert werden könnten.
Was ist ein besonders prägnantes Fallbeispiel in Ihrem Buch?
Das Portrait von Dawna Bublica. Sie ist als Hilfarbeiterin aus Kroatien nach Deutschland gekommen. Sie hat ihr Leben lang gearbeitet und hat einen starken Fokus auf ihre Familie. Als alleinerziehende Mutter, hat sie alles dafür getan, dass ihre Kinder studieren können also das ihre Familie sozial aufsteigt. In dem Sinne hat sie alles richtig gemacht. Aber sie hat ihr gesamtes Geld in die Familie gebuttert, was auch gewollt und typisch ist. Sie war als leitende Altenpflegerin mit Anfang 60 komplett am Ende und ist mit entsprechenden Abschlägen in Rente gegangen. Mit ihrer gesetzlichen Rente hat sie in München keine Wohnung gefunden und hat dann bei ihrer Tochter im Flur auf einer Liege gelebt. Dieser Fall von verdeckter Obdachlosigkeit fand nach drei Jahren zu einem glücklichen Ende als sie eine Wohnung am Stadtrand gefunden hat. Aber diese Frau war unglaublich wütend und enttäuscht. Sie hat gesagt: „Ich habe mein Leben lang in dieser Gesellschaft Menschen gepflegt und Steuern gezahlt, und jetzt muss ich auf eine Weise leben, die mir meine Privatsphäre komplett nimmt.“ Das war für mich ein unglaublich berührendes Beispiel, gerade weil sie so sehr die Familie unterstützt hat. Und es zeigt sich an dem Fall, wie sehr Familien in Mitleidenschaft gezogen werden. Wir kommen immer mehr in Verhältnissen an, in denen die Familien dafür sorgen müssen, wie es den Älteren und Alten geht. Das ist genau das, was wir mit der Rentenreform von 1957 in der Solidargesellschaft beseitigen wollten. Im Alter verschärft sich die soziale Spaltung, die schon ein Leben da da ist.
Sind denn Frauen mit Migrationshintergrund besonders benachteiligt?
Das kann man so pauschal nicht sagen. Es gibt beispielsweise sogenannte Spätaussiedlerinnen, die spät nach Deutschland kommen, also älter als 30. Die haben gar keine Chance, ausreichend Rentenpunkte zu erwirtschaften. Wir haben aber auch Migrationen, wie Frau Bublica, die sich hochgearbeitet hat und eine auskömmliche Rente haben könnten. Die haben dann noch den Vorteil, dass sie ihre müden und kaputten Knochen im Sommer in Kroatien kurieren können. von daher kann man nicht sagen, dass Migrantinnen per se besonders benachteiligt sind. Eine andere der Frauen, eine slowakische Krankenschwester, hat große gesundheitliche Probleme. Sie kann die hohen Gesundheits- und Lebenshaltungskosten dadurch teilweise abfangen, dass ihr beispielsweise Freundinnen aus der Slowakei günstige Medikamente und Lebensmittel mitbringen. Von daher kann ein Migrationshintergrund über das soziale Netzwerk auch große Vorteile mit sich bringen.
“Es regt mich auf, wenn immer wieder gesagt wird, es sei wichtig, ob die Frauen in Teilzeit waren oder auch über Jahre sich um die Kinder gekümmert und gar nicht gearbeitet haben.”
Wie bewerten Sie vor dem Hintergrund Ihrer Untersuchung die aktuelle Debatte zur Grundrente?
Es regt mich auf, wenn immer wieder gesagt wird, es sei wichtig, ob die Frauen in Teilzeit waren oder auch über Jahre sich um die Kinder gekümmert und gar nicht gearbeitet haben. Die sind ja nicht freiwillig zu Hause geblieben und sind nicht »selber schuld«. Es gab noch lange die Frauenlohngruppen. Die sind zwar abgeschafft, eine Spätfolge ist aber, dass es bis heute sogenannte Frauenberufe gibt, die schlechter bezahlt werden. Eine andere ist, dass Frauen, die 35 Jahre und länger gearbeitet haben, eine Rente haben, die zum Leben nicht reicht.
Sie kritisieren, das bestehende Rentensystem sei die »vorrangige Ursache« für die besondere Gefährdung von Frauen im Alter. Warum?
Unser heutiges Rentensystem wurde mit der Rentenreform von 1957 als umlagefinanzierte Rente eingeführt, die an Erwerbstätigkeit gebunden ist. Nach dieser Logik müssten alle eine Rente bekommen, die erwerbstätig sind. Es gibt aber den Webfehler, dass dieses Rentensystem nicht zu den familiären Rollenbildern der damaligen Gesellschaft gepasst hat. Die Rollenmodelle müssen sich ändern. Frauen dürfen nicht mehr diejenigen sein, die über die Renten der Männer mit versorgt sind und damit in finanzieller Abhängigkeit leben. Das Rentenmodell von 1957 ging also von einer Gesellschaft aus, in der die Löhne immer weiter steigen und die traditionelle Konstellation »Mann bleibt mit Frau zusammen« bis ins hohe Alter hält. Das Rentensystem und die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse passen vor dem Hintergrund schon lange nicht mehr zusammen.
Und wie beheben wir diesen Webfehler?
Wir müssen viel mehr Frauen in Vollzeitarbeit bringen. Aber dafür muss man am gesellschaftlichen Rad insgesamt drehen. Solange Kinderbetreuung nicht kostenfrei ist und es zu wenige Plätze gibt, bleibt das ein frommer Wunsch. Zweitens muss sich der Arbeitsmarkt dahingehend ändern, dass es ausreichend Vollzeitarbeitsplätze für Frauen gibt; auch alters- und alternsgerechte Arbeitsplätze. Wir wollen dem entgegenwirken, dass Frauen den Satz »als Mütter müsst ihr zu Hause bleiben« irgendwann auch glauben und letztlich nicht arbeiten gehen. So lange sich das nicht ändert, kann das Rentensystem nicht gut funktionieren.
Das heißt, die steuerfinanzierte Grundrente ist letztlich nur ein Herumdoktern an Symptomen.
So lange noch nicht alle ins Rentensystem einzahlen, wie Beamte oder Selbstständige, und solange wir noch so viele Frauen haben, die im Alter arm sind oder es zu werden drohen, solange muss man das System beispielsweise mit Steuermitteln stützen, damit zumindest diejenigen, die erwerbstätig waren, abgesichert sind.
Damit ist die Grundrente ein äußerst wichtiges Herumdoktern an Symptomen; und ein Herumdoktern an den Folgen des Niedriglohnsektors. Die Grundrente ist vielleicht nicht ganz konform mit dem Umlageprinzip, aber sie wird aus Steuergeldern finanziert. Und es hilft nicht, sich jetzt in Prinzipienreiterei zu üben und zu betonen, wie ungerecht die Grundrente doch sei, weil auch die »Arztgattin« sie bekommen könnte. Stattdessen brauchen wir eine Generationensolidarität, um diejenigen, die 35 Jahre lang wenig verdient haben, zu unterstützen. Deshalb darf es auch keine Bedürftigkeitsprüfung geben.
Den Zusammenhang müssen Sie erklären.
Eine unserer Interviewpartnerinnen war Monika Tegt. Sie hat mitgemacht, weil sie so wütend auf die Bürokratie ist und verzweifelt, weil sie nur mit Hilfe der offenen Altenhilfe in München überhaupt einen erfolgreichen Antrag auf Aufstockung ihrer Rente stellen konnte. Dafür musste sie jeden Verwandtschaftsbesuch, für den ihre Familie die Fahrkarte spendiert hat, offenlegen, jeder Lottogewinn von 20 Euro wird angerechnet. Frau Tegt war unter Dauerbeobachtung. Der Hammer war: Dann kam die Mütterrente und ihr Anspruch auf Grundsicherung erlosch. Das war ein riesiges Hin und Her und hat sie wahnsinnig viel Kraft gekostet.
Frauen profitieren zweifach von der Grundrente. Erstens erhalten sie mehr Geld, und zweitens ist es gut für ihr Selbstwertgefühl, wenn sie nach einem Leben voller Arbeit nicht zum Amt müssen.
Was wollen Sie mit dem Buch erreichen?
Ich denke, mit Fallbeispielen und Erfahrungsberichten kann man politisch anders argumentieren als nur mit Zahlen und Statistiken. Hier ist auch das gelebte Leben vertreten. Wir wollen mit dem Buch nicht nur die wissenschaftliche Debatte, sondern insbesondere die Politik erreichen. Ich denke, dass viele Politiker und Politikerinnen keinen Blick mehr für das haben, was in der Gesellschaft, bei den Menschen wichtig ist. Die Frauen in unserem Buch würden alle von der Grundrente profitieren.
Wenn Sie sagen, Sie hätten vor fünf Jahren, als sie mit der Untersuchung begonnen haben, keine Studien zu Altersarmut von Frauen gefunden, schließen Sie auch eine Forschungslücke.
Auf jeden Fall. Mit unserem Buch kann man vertieft verstehen, wie es den betroffenen Frauen geht, wie sie wirtschaften, mit welchen Haltungen, sie sich in der Situation arrangieren. Die Fallbespiele stehen nicht zuletzt für Typen, die in der Realität öfter vorkommen: Wir haben aus fast allen gesellschaftlichen Schichten und fast allen Branchen Frauen mit und ohne Migrationshintergrund interviewt. Die Studie ist zwar nicht repräsentativ, aber wir können aus den Interviews Fallbeispiele herauslesen, die die gesellschaftliche Realität spiegeln.
Zuerst erschienen in neues deutschland am 14. März 2019