Five Young Men

Ein Nachruf

Erste Strophe

Wir fahren zu einer Feier auf dem Dorf, einen Ticken nördlich unserer Heimastadt im Norden Hamburgs. Auf dem Weg dorthin haben wir erfahren, dass einer aus unserem Jahrgang tödlich mit dem Auto verunglückt ist. Es ist Februar 1990. Die Stimmung ist gedrückt. Es ist für die meisten die erste Erfahrung mit dem Tod eines Freundes. Seitdem besteht die Verabredung zwischen uns: Abwechselnd Null Promille, einer fährt einer trinkt. Der eine ist Marko, der andere bin ich.

Five Young men
were killed last Friday
Hunting over the highway
Now they’re six feet under under
and I sit here and wonder

Zweite Strophe

Auf einer Abiparty zwei Jahre später. Es war die Zeit, in der kein Feuerwehrfest, keine öffentliche Feier, Keine Abiparty stattfinden konnte, ohne dass mindestens ein Dutzend Naziskins vor der Tür lungerte, Stress gesucht hat, Menschen angegriffen und verprügelt hat oder Schlimmeres. Ein halbes Jahr später zünden Neonazis unter dem Jubel von Anwohner*innen die Sonnenblumenhäuser in Rostock an. Es war der schreckliche Höhepunkt eines mehrtätigen Pogroms. Im gleichen Jahr wiederholt es sich in Hoyerswerda – und hört damit nicht auf.

Auf dieser Abiparty hatten uns mehrere Faschos auf dem Kieker. Lange Haare, lila Jeans, Holzfällerhemd, Stiefel, links, „Zecken“, das waren wir. Einer provozierte mich den ganzen Abend lang, ich konnte mich noch nicht wehren. Irgendwann ging Marko dazwischen, vertrieb den Typen. Wir hatten danach Angst in der Stadt, machten einen Bogen um Jungs aus der Nachbarschaft, die wir zwar schon lange kannten, die aber jetzt auf der anderen Seite standen.

Five Young Men
With bald heads
Hunting for reds
They are ready to fight
And they think its alright

Refrain

Wir waren jung, wir haben Musik gehört und Musik gemacht, Marko hat Bass gespielt, ich Gitarre. Irgendwann hat er mich gefragt, ob ich in der neu gegründeten Band Joe Sixpack mitspielen will. Das war kurz nach dem Abi. Marko kannte ich da schon fast 20 Jahre. Wir waren beim Kinderkegeln, das unsere Mütter Ende der 1970er Jahre ins Leben gerufen hatten. „Die sechs Schlümpfe“ hießen wir. Wir haben in den 1980ern Jahr um Jahr auf dem Tennisplatz zusammen gestanden und von Schulschluss bis Sonnenuntergang Bälle übers Netz und ganz schön oft in oder über den Zaun gekloppt.

Dann kamen die Pubertät und die Teenagerzeit, wir waren plötzlich schwerst nachdenklich, romantisch, verwirrt. Wir haben Kurzgeschichten, Gedichte und Briefe mit der Hand und auf alten Schreibmaschinen geschrieben, haben „Easy Rider“ geguckt und Steppenwolf gehört, haben Musik gemacht, waren zusammen feiern, haben uns gestützt, wenn es uns schlecht ging.

We’re Five Young Men
Who couldn’t understand
What crawls upon the land
Can’t they see
What life could be

Dritte und vierte Strophe

Marko war unglücklich und schwerst verliebt, und meine erste Liebe hatte mit mir Schluss gemacht. Das Leben war plötzlich Scheiße und grau. Wir flohen in die Musik, wir rauchten und tranken Bier und Korn. Dazu die Lektüre in der Schule „Die neuen Leiden des jungen Werther“ oder „Der Steppenwolf“, das erste Mal einen Marx in der Hand halten, eine Antifa-Broschüre. Große Thesen und Parolen in Zeiten des großen Teenagerleidens, der Entfremdung vom eigenen Körper, von der kindlich unbeschwerten Identität und von der Welt, die immer schlimmer zu werden schien. 

Und wir waren dagegen, wollten es anders haben, hegten Groll gegen die da, die an unserem Elend vermeintlich Schuld waren, Schuld an unserer Langeweile auf dem Dorf, Schuld an unseren gebrochenen Herzen und Schuld daran, dass wir von Kindesbeinen an mit Nachrichten von Atomkatastrophe, Hungerkatastrophen, Nazis und Kaltem Krieg beschallt wurden. Auge um Auge, so einfach war das. Junge Männer mit Ohnmachts- und Machtfantasien, die wir mit unseren Instrumenten und unseren Texten herausließen.

Five Young Men
Havent’t got any girlfriends any more
Don’t know what they’re looking for
Sitting in a room full of smoke
And taking a toke

Five young men
Wanna know the truth
An eye for an eye
And a tooth for a tooth

Fünfte und sechste Strophe

Anfang 1990 brachten viele von uns wochenlang batteriebetriebene Radios morgens mit in die Schule, wir hatten Angst, wollten nicht verpassen. Dann, als die ersten Bomben fielen und der zweite Golfkrieg begann, lagen wir uns in den Armen, waren geschockt und wütend, am selben Tag lief die erste Demo durch die Stadt, die vier Gymnasien mit einem „Sternmarsch“ dabei. Für viele von uns war es die erste Demonstration unseren Lebens, es sollten viele weitere folgen. Marko und ich waren mit vielen anderen dabei.

Five young men
Died in an township desaster
Death rises faster
Than a man can run, when has it all begun?

Thousand Young Men
Fight against each other in a war
What ist it good for
Many will die in a foreign land
forgotten and buried in the sand

Der Song

Den Text zu „Five Young Men“ hat Marko in der Anfangszeit der Band geschrieben. Nachdem ich das Lied zum ersten Mal seit Jahren gehört habe, erkenne ich ihn und uns und viele andere in unserem Alter in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren wieder. Die „Five Young Men“, die er beschrieb, waren in der Hälfte der Strophen wir, Joe Sixpack.

Wir kennen uns seit wir vier oder fünf Jahre alt waren, haben uns nach der Schule und nach dem Ende der Band eine Weile aus den Augen verloren und uns vor Jahren wiedergefunden und konnten anknüpfen. Wir waren zusammen mit den Motorrädern in Europa unterwegs, haben uns besucht, wenn der eine in der Stadt des anderen war und haben regelmäßig telefoniert, wenn es eines klugen Rates bedurfte oder wir einfach nur eine Stunde Quatsch reden und kichern wollten. Denn neben dem traurigen Text da oben, haben wir viel zusammen gelacht, hatten unsere running jokes und Insider, die nur wir verstanden haben und mit denen wir mit nur einem Wort oder einer Geste einen ganze Roman zu einer Situation erzählen konnten.

Anfang 1990er am Bauwagen

Sprung in die Gegenwart

Irgendwann an einem heißen Junitag bekommst du eine knappe Mail: „Hallo Jörg, ich bin ein Freund von Marko, bitte ruf mich an.“ Dazu eine Telefonnummer.

So wenig ein Datenhäuflein in ASCII-Format Gefühle ausdrücken kann, so schnell wird mit den knappen Worten klar, dass sich hinter der Rückrufbitte eine sehr schlechte Nachricht verbirgt. Marko ist vor ein paar Tagen gestorben, „nach kurzer schwerer Krankheit“, wie man so sagt. Mit ihm ist einer meiner ältesten und besten Freunde gegangen. Von den Five Young Men sind nur noch vier da.

Die Musik hat ihn ein Leben lang begleitet. Marko war mit der erste von uns, der auf einmal in den 1980er Jahren mit diesem neuen Zeug „HipHop“ ankam. Durch ihn kannte ich Grandmaster Flash und die Beastie Boys und Public Enemy, bevor die so richtig „major“ waren. In den letzen Jahren hat er zwar nur noch selten selber Bass oder Gitarre gespielt, dafür aber zu Hause seine Liebe zu Vinyl gepflegt. Es drehten sich Soul, Funk, Hiphop aus den 1970er und 1980er Jahren. Dazu ein guter schottischer Whiskey oder ein guter französischer Rotwein, gutes Essen sowieso.

Marko war mein Leben lang da. Ich kannte ihn als einen verlässlichen, hilfsbereiten, unglaublich witzigen Freund und engen Weggefährten. Der ist nun weg und bleibt auch weg. Ist das dieses Erwachsensein, von dem immer alle reden, dass wir mit Mitte 40 in ein Alter kommen, in dem die besten Freunde auf einmal aus den Latschen kippen und „nach kurzer schwerer Krankheit“ einfach sterben? Dann wäre ich gerne weiter Kind.

Mach’s gut, Marko. Du fehlst.