»Es ist eher verwunderlich, dass es so lange gut gegangen ist«

Der Gewerkschafter Freddy Adjan sagt, die deutsche Fleischindustrie sei von Grund auf krank. Er fordert ein Ende prekärer Arbeitsverträge in Schlachthöfen und Mindeststandards für Arbeiterunterkünfte Jörg Meyer sprach mit ihm über die Zustände in deutschen Schlachthöfen.

Von Jörg Meyer

Seit den Corona-Ausbrüchen in mehreren Schlachtbetrieben werden die Arbeits- und Wohnbedingungen der Beschäftigten wie auch Werkverträge als eine extrem prekäre Form der Beschäftigung erneut scharf kritisiert. Sie dürften wenig überrascht sein, dass sich dort die Infektionen häufen.

Ich stelle mir Schlafsäle mit Stockbetten vor.

Das ist so. Häufig werden Sammelunterkünfte angemietet, alte Kasernen oder leerstehende Wohn- und Bürogebäude. Die Subunternehmen, die beispielsweise den Auftrag über 10 000 Schweinehälften haben und dafür Arbeitskräfte nach Deutschland holen, treten dann auch als Vermieter auf. Oder die Gebäude werden von wieder anderen Subunternehmen angemietet und an die Beschäftigten weitervermietet – zu horrenden Preisen. Ich habe von Fällen gehört, in denen die Menschen sich in Schichten eine Matratze teilen und dafür 200 Euro im Monat bezahlen müssen. Die Kette von Subunternehmen und Fremdfirmen ist aus unserer Sicht eines der Grundübel in der Branche. Hier muss die Politik dringend tätig werden.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hat für Montag ein Konzept angekündigt, um die Situation in den Schlachthöfen zu verbessern. Was muss da drin stehen?

Das ist begrüßenswert, es müssen aber jetzt auch wirklich zügig umfassende Maßnahmen getroffen werden. Wir haben Anfang der Woche ein Schreiben an die Angehörigen der Bundestagsfraktionen und Ministerien mit aus unserer Sicht fünf wesentlichen Forderungen geschickt. Werkverträge im Kernbereich von Unternehmen müssen verboten werden; ein Schlachtbetrieb darf nicht, wie es in einigen Unternehmen der Fall ist, 70 bis 80 Prozent der Schlachterei als Werkverträge vergeben. Wir brauchen endlich Schwerpunktstaatsanwaltschaften für den Arbeitsschutz, die Unterkünfte und deren Einrichtungen müssen einheitlich geregelt werden, die Kosten für die Unterkünfte müssen begrenzt werden, und schließlich brauchen wir einen Mindestlohntarifvertrag für die ganze Branche, wie es ihn im Baugewerbe oder der Gebäudereinigung gibt.

Wie könnte der denn helfen?

Wenn sich die Unternehmen in der Branche zusammensetzen und einen Mindestlohntarifvertrag mit uns abschließen, hätten sie mehr Macht den Supermärkten gegenüber. Der Handel diktiert den Preis und hält ihn niedrig. Die meisten Unternehmen der Schlachtindustrie sind leider bisher nicht willens, Tarifverträge abzuschließen.

Freddy Adjahn ist seit 2018 Mitglied des Geschäftsführenden Hauptvorstands der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und deren Stellvertretender Vorsitzender. Der gelernte Hotelfachmann arbeitete bereits seit 1996 in der NGG-Region München als Gewerkschaftssekretär. Foto: Simone M. Neumann

Sind die Unternehmen denn aktiv geworden, um die Ausbreitung von Sars-CoV-2 zu bremsen?

Von unseren Betriebsräten hören wir, dass die Situation in den Schlachthöfen mittlerweile in Ordnung ist. Es wird auf Abstand geachtet. In der Nahrungsmittelindustrie sind die Hygienestandards ohnehin hoch. Unsere Vermutung ist, dass sich die meisten Ansteckungen in den Unterkünften oder auf dem Weg dorthin ereignen.

Nur eine Vermutung?

In die Unterkünfte selber kommt man nur schwer rein. Das ist Privatbesitz, und da gilt das Grundrecht auf die Unverletzlichkeit der Wohnung. Auch Ämter haben da aktuell noch zu wenig Möglichkeiten. Zuständig sind in der Regel die Gesundheitsämter, die kontrollieren müssen, wenn es Verdachtsfälle gibt. Dass aber ein rumänischer Arbeiter sich ans lokale Gesundheitsamt wendet, passiert eher nicht. In der Vergangenheit gab es Berichte mit verdeckt aufgenommenen Bildern über die Zustände in den Unterkünften. Die aktuellen Infektionszahlen zeigen uns leider, dass diese Berichte wahr sind. Hier machen es sich die Unternehmen viel zu leicht, wenn sie die Verantwortung für die Unterkünfte den Subunternehmen zuschieben. Sie sind es, die Löhne bezahlen, von denen die Menschen keine normale Unterkunft anmieten können.

Die Lage der Schlachthofbeschäftigten erinnert an die der Spargelstecher. Was haben sie gemein?

Weil Deutsche die Arbeit nicht mehr machen wollen, müssen massenhaft Menschen aus dem Ausland dafür rekrutiert werden, die in kleinen Unterkünften eingepfercht werden und bereit sind, diese Zustände zu tolerieren. Aber in der Ernte geht es um Saisonarbeiter. Die in den Schlacht- und Zerlegebetrieben Arbeitenden sind hier meist für mehrere Monate, fahren dann nach Hause und kommen mit einem neuen Werkvertrag wieder her. Die waren vorher schon in Deutschland und sind, als die Grenzen geschlossen wurden, nicht mehr in ihre Heimatländer zurückgekommen.

Zeigt die aktuelle Krise auf, was schon lange schiefläuft, oder kommen jetzt völlig neue Probleme ans Licht?

In der Branche liegt seit gut 30 Jahren vieles im Argen. Es ist eher verwunderlich, dass es so lange gut gegangen ist, ohne dass die Infektionszahlen explodiert sind. Die Deutsche Fleischindustrie ist von Grund auf krank. Das System basiert auf der Ausbeutung von Tieren und Menschen. Die Fleischindustrie verdient Geld, hat aber geringe Margen, weil die Supermarktketten die niedrigen Preise diktieren. Dazu kommt, dass die Menschen in Deutschland sich zwar einen 500-Euro-Grill in den Garten stellen, aber die billigste Wurst da drauflegen. Wenn in einem Supermarkt die Wurst 10 Cent teurer wird, gehen sie zum anderen. Das sind die Ursprünge dieses Systems. Wichtig ist, dass die öffentliche Aufmerksamkeit jetzt auch dazu führt, dass sich für die Betroffenen wirklich was verbessert und die Konzerne nicht weitermachen können wie gehabt. Denn wir haben es mit verantwortungslosen Konzernen zu tun, die ihren Profit über die Gesundheit der Menschen stellen, die für sie arbeiten müssen.

Zuerst erschienen in “neues deutschland” am 16. Mai 2020