Der am Mittwoch in Berlin vorgestellte neue DGB-Index Gute Arbeit zeigt: Beschäftigte wollen mehr Mitbestimmung bei der Arbeitszeit. Viele leiden unter Erschöpfung und beklagen die mangelnde Vereinbarkeit von Privat- und Arbeitsleben.
Von Jörg Meyer
Rund die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland wünscht sich mehr Mitbestimmung bei der eigenen Arbeitszeit und einen begrenzten Arbeitstag. Das ist ein zentrales Ergebnis des Index Gute Arbeit, den der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) seit nunmehr elf Jahren regelmäßig herausgibt. Der Index ist eine repräsentative Befragung von abhängig Beschäftigten und dreht sich um Fragen des Einkommens und der Arbeitsbedingungen. Jedes Jahr gibt es eine Sonderauswertung, die in diesem Jahr das Thema Vereinbarkeit von Privat- und Arbeitsleben behandelte.
Die Vereinbarkeit leide besonders unter langen Arbeitszeiten und der Pflicht zur ständigen Erreichbarkeit, heißt es im Index, den der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann, der Erste Vorsitzende der IG Metall, Jörg Hofmann und die Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) am Mittwoch in Berlin vorstellten. So gaben 27 Prozent der Beschäftigten insgesamt an, dass sie sehr häufig Schwierigkeiten hätten, private Interessen mit ihrer Arbeit zeitlich zu vereinbaren. Mit jeweils 35 Prozent sind hier das Gesundheitswesen und die Verkehrs- und Lagerbranche Spitzenreiter. Frauen (30 Prozent) haben häufiger Probleme mit der Vereinbarkeit als Männer (25 Prozent).
Das liege in erster Linie daran, sagte Michaela Rosenberger, dass in Vollzeit beschäftigte Frauen nach wie vor im Durchschnitt 13 Stunden länger wöchentlich Kinder betreuen – insgesamt 39 Stunden neben der Arbeit und 26 Stunden bei den Männern. Bei teilzeitbeschäftigten Müttern sind es sogar 20 Stunden Unterschied (49 zu 29 Stunden). „Der Grund für die großen Unterschiede ist, dass Frauen überdurchschnittlich in Teilzeit beschäftigt sind“, so die NGG-Chefin. Unter den männlichen Befragten gaben nur 40 Prozent an, in Teilzeit zu arbeiten, um besser für Familie und Kinder sorgen zu können. Demgegenüber stehen 71 Prozent der Frauen, die aus diesem Grund in Teilzeit gehen – und da bleiben sie dann auch.
„Wir brauchen das Rückkehrrecht auf Vollzeit“, betonte Michaela Rosenberger. Die Große Koalition hatte sich dieses Vorhaben 2013 in den Koalitionsvertrag geschrieben, zur Umsetzung ist es wegen des Widerstandes aus der Union und Arbeitgeberverbänden aber nicht gekommen. Ganz im Gegenteil.
Derzeit laufen die Debatten um Arbeitszeit in die andere Richtung. Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband startete im Frühjahr eine Kampagne für die „Anpassung des Arbeitszeitgesetzes an die Lebenswirklichkeit“. Heißt konkret: Die „starre“ Arbeitzeit von acht Stunden täglich sei nicht mehr zeitgemäß. Wie andere Arbeitgeberverbände fordert der DEHOGA eine gesetzlich festgelegte wöchentliche Höchstarbeitszeit. Für die Gewerkschaften ist das jedoch ein No Go: „Entgrenzung der Arbeitszeit ist das Gegenteil von Vereinbarkeit“, sagte Michaela Rosenberger und kritisierte den DEHOGA: „Die Branche findet keine Fachkräfte und reagiert darauf, wie sie es immer tut: Mit kurzfristigen Lösungen. Die Personalnot soll auf dem Rücken des vorhandenen Personals ausgetragen werden.“ Einseitige Flexibilität sei nicht immer ein Verbesserung.
Mehr Flexibilität und Selbstbestimmung bei der eigenen Arbeitszeit fordert auch die IG Metall in der jüngst gestarteten Tarifrunde für die Metall- und Elektroindustrie. Hier geht es um die individuelle Wahlmöglichkeit, für eine begrenzte Zeit in kurzer Vollzeit zu arbeiten. „Der neue DGB-Index zeigt, dass die Arbeitszeit neu gedacht werden muss“, sagte Jörg Hofmann bei der Vorstellung der Untersuchung am Mittwoch. „Wir brauchen mehr Selbstbestimmung, und das gilt für alle Branchen.“
Der DGB-Index arbeitet mit einem Punktesystem, dass sich aus den von den Beschäftigten beantworteten Fragen ergibt. Null Punkte ist „Schlechte Arbeit“, 100 Punkte bedeuten „Gute Arbeit“. „Mit 63 Punkten bewegt sich der Wert in Deutschland in den letzten Jahren gleichbleibend im unteren Mittelfeld“, sagte DGB-Chef Reiner Hoffmann. Zwar gebe es gegenüber dem letzten Index eine „geringfügige Verbesserung“ von einem Punkt. Im Zentrum der Kritik stünden jedoch gleichbleibend die Bezahlung und die Arbeitsintensität. Viele Beschäftigte fühlten sich gehetzt, vom Chef geringschätzig behandelt und litten häufig unter Erschöpfung. „Arbeitgeber müssen flexibler werden, wenn es um die Bedürfnisse ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geht. Stattdessen das Arbeitszeitgesetz schleifen zu wollen, ist die völlig falsche Antwort: auf die Digitalisierung, auf den Fachkräftebedarf und nicht zuletzt auf die Vereinbarkeitsfrage“, so Hoffmann.