Ein nicht verarbeitetes Trauma

Malou Berlin beschreibt in »Brandspuren« wie eine Familie mit einem fremdenfeindlichen Anschlag im Ort umgeht

Von Jörg Meyer
Eine Familiengeschichte, nein! Ein Nachwenderoman, nein! Ein Stück Gesellschaftsgeschichte, nein, nein und nochmals nein! »Vielschichtig«, so das viel und doch wenig sagende Wort, das dem Rezensenten beim Nachdenken über den Roman »Brandspuren« von Malou Berlin in den Sinn kommt. Es ist auch nicht wichtig, eine Schublade zu finden, in die das ganze Buch passt.

Der zweite Roman der Autorin und Filmemacherin erzählt die Geschichte dreier Frauen: Großmutter, Mutter, Tochter in der fiktiven brandenburgischen Kleinstadt Ratzlow und in Berlin. Erzählt vom Leben und Wollen und vom Scheitern jeder einzelnen und vom belasteten und auch zerstörten Verhältnis zueinander.

Die Großmutter, Wilma Nowak, von ihren langjährigen Bekannten nur Willi genannt und oft als »Herr Nowak« angesprochen, ist gelernte Maurerin, vielfältig engagierte Bürgerin der DDR, eine Frau, die sich im Alter mit dem schwächer werdenden Körper und Einsamkeit auseinandersetzen muss. Die Tochter, Petra, die vor 20 Jahren mit ihrer Mutter gebrochen hat und an den unerfüllten Träumen in ihrem Leben scheitert. Und die Tochter und Enkelin Anna, die nach dem Studium beginnt, ihren Weg konsequent zu gehen und als gelernte Modedesignerin mit ihrer deutsch-türkischen besten Freundin ihre erste Schneiderwerkstatt nebst Ladengeschäft eröffnet.

Was die drei verbindet ist ein nicht aufgearbeitetes Trauma, das vor 20 Jahren entstanden ist. Damals brannte im Ort das Haus der einzigen türkischen Familie. War es ein Anschlag oder ein technischer Defekt? Die Familie überlebte und verließ Ratzlow. Die Aufarbeitung nicht nur der drei Frauen zieht sich durchs Buch.

Malou Berlin begann an dem Buch vor dem Hintergrund des Brandanschlages in Mölln im Jahr 1993 zu arbeiten. Damals starben drei Frauen, Yeliz Arslan und Ayse Yilmaz sowie ihre Großmutter Bahide Arslan mit zehn, 14 und 51 Jahren. Es geht in »Brandspuren« um Auseinandersetzung, die nicht endet – auch wenn man es vielleicht will; und Verantwortung, die nicht vergeht. Mit ihrem Film »Nach dem Brand«, für den Malou Berlin als Regisseurin die Hinterbliebenen der Arslans jahrelang begleitet hat, beschrieb sie die andauernde Auseinandersetzung der Familie mit ihrer Heimatstadt Mölln.

Im Buch richtet sie den Blick auf drei Anwohnerinnen einer fiktiven Kleinstadt, in der »es« auch geschah – und wie in vielen Fällen wurde »es« nicht benannt als das, was es war: Rassismus, Mordversuch, Mord. Die drei Frauen müssen sich mit der neuen Situation und auch mit der Vergangenheit auseinandersetzen, als Hunderte Geflüchtete nach Ratzlow ziehen, die Situation verändern, und die lokalen Nazis Morgenluft wittern.

»Brandspuren« ist ein lesenswertes Buch, das eine Parallele zieht zwischen der Situation Anfang der 1990er Jahre und den letzten zwei Jahren. Es ist ein einfühlsames Buch, die Personen kommen den Lesenden nah, man möchte mehr über sie wissen und erfährt schon viel. Und es ist eine spannend erzählte Geschichte, die der Rezensent beinahe in einem Rutsch verschlungen hat.

Malou Berlin: Brandspuren. Roman. Querverlag, 224 S., br., 14,90 €.

neues deutschland, 27.12.2016, Seite 16
Quelle: https://www.neues-deutschland.de/artikel/1036570.ein-nicht-verarbeitetes-trauma.html