Jede und jeder in Klötze kennt jemand, der oder die bei Fricopan arbeitet. Noch. Die Großbäckerei macht in der Altmark nach 20 Jahren dicht. Gut 500 Jobs vernichtet, eine ganze Region ist betroffen.
Immekath ist eine 600-Seelen-Gemeinde und ein Ortsteil der gut sechs Kilometer entfernten Stadt Klötze in der Altmark; Bauernhöfe, Rotziegel, vereinzelt Fachwerk, eine Kirche, Handwerksbetriebe, der ein oder andere Neubau und am Südrand: die Fabrik. Mehlsilos, Kühlhäuser, Produktionshallen, ein Verwaltungsgebäude. Von oben besehen ist das Werksgelände so groß wie ein Viertel des Dorfes. Hier ist seit 1996 der Standort von Fricopan, einer in Garching bei München gegründeten Großbäckerei, die Tiefkühlbackwaren herstellt.
Gerda Hentschel trägt einen Button an ihrem Pullover, als wir zusammen den Imbiss in Klötze betreten, um Kaffee zu kaufen. Schlaf ist vertagt, es geht seit Tagen von Telefonat zu Telefonat, von Versammlung zu Versammlung. »Finger weg von Fricopan«, steht auf dem Button. Als die Frau hinter dem Imbisstresen das sieht, sagt sie: »Das ist wohl zu spät!«
Hentschel guckt kurz zu Boden. Dann sagt sie, dass es jetzt wichtig sei, die Abwicklung für das Unternehmen so teuer wie möglich, für die Beschäftigten so erträglich wie möglich zu gestalten. Es geht um einen Interessenausgleich, einen Sozialplan, um Abfindungen. Die Frau hinterm Tresen stimmt ihr zu, sie ist wütend: »Hier hatte ich die auch. Die saßen heulend hier, weil sie nicht wissen wie es weitergeht«, und weist auf die Handvoll Tische. »Ganze Familien arbeiten doch in Immekath.«
Auf dem Weg zum Tisch mit dem Milchkaffeeglas in der Hand sagt Gerda Hentschel: »Es ist gut, dass hier viele so denken.« Sie ist die Betriebsratsvorsitzende von Fricopan. Seit 16 Jahren arbeitet sie im Unternehmen, hat in der Produktion angefangen und anfangs gedacht: »Eine Lohntüte, dann bin ich wieder weg.« Die Arbeitsbedingungen waren unterirdisch. Zwölf-Stunden-Schichten, drei Wochen lang, dann eine Woche frei, das Ganze noch im Jahr 2007 für 5,40 Euro die Stunde.
Die Unternehmensgeschichte – eine einzige Erfolgsstory. Im Jahr 1992 gegründet, umfasste das Sortiment von Fricopan »original französische Spezialitäten wie Baguette und Baguettebrötchen«, heißt es auf der Homepage. Später kamen weitere Produkte dazu – insgesamt sind es rund 200. Die findet man in Tiefkühlregalen im Supermarkt, bekommt sie vom Großhändler und Caterer. 1996 übernahmen die Firmengründer die Produktionsstätten eines in die Pleite gegangenen Feinkostherstellers in Immekath. In den ersten Jahren des neuen Jahrtausends wurde gebaut: neue Produktionshallen, ein Tiefkühllager, eine vollautomatische Palettierungsanlage.
Im Jahr 2006 erfolgte der Verkauf an die Schweizer Hiestad-Gruppe. In der Zeit begannen die Beschäftigten zum zweiten Mal, für einen Betriebsrat zu kämpfen. Ein erster Versuch war am Widerstand der Chefs gescheitert, Aktive wurden gefeuert. Unter Hiestad sei das einfacher gewesen, erzählt Hentschel. Von da an wurde Schritt für Schritt vieles besser: Betriebsratsgründung 2007, im Jahr 2008 der erste Haustarifvertrag; der gewerkschaftliche Organisationsgrad war in kürzester Zeit auf 85 Prozent nach oben geschnellt. Mehr Geld, kürzere Schichten, Urlaubsregelungen, bessere Arbeitsbedingungen.
Nach der Fusion von Hiestad mit der irischen IAWS Gruppe entstand 2008 die Aryzta AG – ein Global Player auf dem Tiefkühlbackwarenmarkt. Das machte sich bemerkbar. »Man ist gleich härter gegen den Betriebsrat vorgegangen, weil wir sehr stark sind. Wir lassen uns nichts gefallen und machen den Mund auf, wo es notwendig ist. Naja, eigentlich ist das ja immer notwendig in so einer Firma«, sagt Hentschel. 2013 übernahm Aryzta die Großbäckerei Klemme mit dem Werk in Eisleben – und verlagerte die Produktion Stück für Stück nach dort.
Zurück in Immekath. Es ist Schichtwechsel. Die Frühschicht beginnt um sechs Uhr und endet um 14 Uhr. Gerade trudeln nach und nach die KollegInnen der Spätschicht ein, parken ihr Auto, einige kommen zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Gegenüber, auf der anderen Seite vom Parkplatz, steht eine weitere Halle; der Fabrikverkauf. Daneben ein Imbiss. Die paar Menschen, die davor stehen, haben ein Thema: Was kommt nach dem 31. August? Dann ist hier Schluss. Die Sonne strahlt vom blauen Himmel. Einen Tag zuvor hatte die Geschäftsführung die Schließung offiziell gegenüber der Belegschaft verkündet. Ein Drama. »Die ersten sind schon nach 20 Minuten weinend wieder rausgegangen. Die hatten anfangs noch Hoffnung, dass es doch weitergeht«, erzählt ein Arbeiter auf dem Weg zum Drehtor.
Vorige Woche Dienstag war der Gesellschafterbeschluss gefallen. Am Mittwoch vor Himmelfahrt hat die Geschäftsleitung den Betriebsrat zur Sondersitzung eingeladen und von den Schließungsplänen erzählt. Der Betriebsrat erbat sich eine Stunde Beratungszeit. Währenddessen seien die Führungskräfte unterrichtet – und eine Rundmail an alle Beschäftigten geschickt worden, erzählt Hentschel. Fricopan-Sprecher Günther Lindinger spricht dagegen von einem Aushang im Werk. Auf dem Weg zurück in die Sitzung hätte sie der erste Staplerfahrer gefragt ob wirklich geschlossen werde, sagt Hentschel. Auf die Frage, woher er das wisse, habe er geantwortet, das sei doch schon in ganz Immekath rum. Am »Vatertag« verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer im Landkreis.
Das erzählen viele an diesem Dienstag vor dem Fricopan-Werk. »Die haben kurzen Prozess gemacht«, sagt ein Mann, der vielleicht Anfang vierzig ist. »Ich habe auch Kinder, aber ich bin ja noch jung und kann mir etwas anderes suchen, aber die Älteren, die trifft es heftig.« Ein anderer Mann, in den Zwanzigern, sagt: »Muss ja weitergehen«, und geht weiter. Ein älterer Kollege sagt: »Ich bin fast von Anfang an hier, habe noch die Zwölf-Stunden-Schichten mitgemacht.« Er guckt über das Gelände, deutet auf die älteren Hallen. »Das da hinten, das war das Einzige, was hier stand. Der ganze Rest ist später dazugekommen. Die haben investiert und investiert.« Er stockt. »Ich dachte so etwas wie das hier bleibt bestehen.« Dann muss er schnell zur Schicht. Eine Frau in den 50ern sagt, sie wisse auch nicht, wie es jetzt weitergeht. Sie hat Tränen in den Augen. »Menschenverachtend« ist ein Wort, dass hier häufiger fällt.
Er erwarte »von der Konzernführung, dass die Verantwortung für diesen Standort wahrgenommen wird – sowohl für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als auch für den Erhalt des Standortes«, sagte der sachsen-anhaltinische Wirtschaftsminister (SPD) Jörg Felgner am Dienstag in Klötze »ganz deutlich«. Das heißt das Gleiche, ist aber diplomatischer. »Hier kann man nicht nur über Jahre gutes Geld verdienen, sondern man muss auch Unterstützung geben«, hatte Felgner gesagt. Für ihn ist Fricopan Chefsache, er will Immekath retten. Die Unternehmensleitung hat viele vor den Kopf gestoßen. Aber was kann Politik tun? Die Praxis der Fördermittelvergabe muss auf den Prüfstand, sagt der Minister. Immekath hatte Landesförderung erhalten, die Bindefrist war 2015 abgelaufen. Auch für das Werk in Eisleben erhält Aryzta Fördermittel.
Christian Hinze-Riechers ist der Vizebürgermeister und Kämmerer von Klötze. Auswirkungen der Schließung seien noch nicht bezifferbar, sagt er. »Klar ist aber: Diese Werksschließung wird nicht spurlos an der Stadt und der Region vorbeigehen. Die Stadt Klötze konnte seit 2010 immer einen ausgeglichenen Haushalt verabschieden. Durch höhere Steuereinnahmen konnten wir Rücklagen bilden, die dann den Haushalt im folgenden Jahr auszugleichen halfen. Genau diese Summe fehlt jetzt mit dem Wegfall der Gewerbesteuereinnahmen von Fricopan.« Der Politiker rechnet für die nächsten zwei Jahre mit einem »erheblich defizitären Haushalt«.
Die »Mitteldeutsche Zeitung« schrieb vom zuletzt besten Geschäftsjahr, das Fricopan je hatte. Warum also die Schließung? Im laufenden Geschäftsjahr 2015/2016 habe es »einen dramatischen Einbruch« gegeben, sagt Lindinger. »Das Argument, dass wir das beste Geschäftsjahr seit Bestehen hatten, bezieht sich aber auf das Vorjahr.« In der Pressemitteilung vom Montag hieß es: »Die internen Bewertungen haben ergeben, dass eine Verbesserung der Infrastruktur sowie der Produktionsanlagen, um zukünftigen Marktanforderungen gerecht zu werden, unwirtschaftlich ist. Zudem ist die Verkehrsanbindung des Standortes unzureichend.«
»Es ist nicht unsere Entscheidung«, sagt Sprecher Lindinger. Man müsse sich nach Kundenwünschen richten. »Aktuell sind die, dass man keine Verpackungen mehr möchte, die zur Konservierung mit Alkohol eingesprüht sind. Für den Standort Immekath würde das den Bau einer neuen Anlage bedeuten.« Insgesamt käme ein Betrag zustande, »der wirtschaftlich nicht darstellbar ist«.
Das will Holger Willem nicht gelten lassen. Er ist Geschäftsführer der NGG in Magdeburg. Für ihn ist die Schließung »eine riesengroße Schweinerei«. Er habe in seinen 25 Jahren in dem Job »eine derart schäbige Art und Weise, mit Menschen umzugehen«, noch nicht erlebt. Dass nach einem so guten Geschäftsjahr die Zahlen so in den Keller gehen, sei ein »hausgemachtes und gewolltes« Problem. »Die schlechten Geschäftszahlen rühren von der Produktionsverlagerung nach Eisleben her.« Betriebsrat und Gewerkschaft arbeiten gemeinsam am Interessenausgleich. Ein Anwalt wurde beauftragt, ein Gutachten soll erstellt werden, »in dem deutlich wird, dass Fricopan eine Zukunft hätte. Die Ergebnisse fließen als Grundlage in die Ausgleichsverhandlungen mit ein«, sagt Willem.
In den letzten Tagen gab es auch bessere Nachrichten. Betriebsrat und Gewerkschaft berichteten, dass sie von Firmen aus der Umgebung angesprochen worden seien, die Fricopan-Beschäftigte übernehmen könnten. »Es kann sein, dass wir alle Auszubildenden anderswo unterbekommen«, erzählt Andreas Höppner – aber erst wenn der Ausgleich auf dem Tisch liegt. Er ist für die NGG ebenfalls an den Verhandlungen beteiligt. Die Gewerkschaft rät den Beschäftigten, auf jeden Fall weiterzuarbeiten.
Bevor er in diesem Jahr für die Linkspartei in den Landtag einzog, war Andreas Höppner Betriebsratsvorsitzender bei Fricopan. »Dass Unternehmer von sich aus beim Betriebsrat anrufen, heißt schon was«, sagt Höppner. »Die sind selber über das Verhalten von Fricopan schockiert.« 50 bis 70 Beschäftigte hätten das Unternehmen schon verlassen – zuerst die Leiharbeiter. Es tue den KollegInnen gut zu sehen, dass sich jemand kümmert, erzählt Höppner. Als Betriebsratsvorsitzender hat er mit dem »harten Kern« die Verbesserungen der letzten Jahre durchgekämpft – »fast das gesamte Betriebsverfassungsgesetz Paragraf für Paragraf«, sagt Höppner. Die Leute seien froh und entwickelten Stärke daraus, ihn zu sehen, wie auch Hentschel und die anderen Betriebsräte. Für kommenden Dienstag hatte die Geschäftsleitung zu einem ersten Gespräch über den Interessenausgleich eingeladen. Doch das wird wohl noch nicht stattfinden. Der Betriebsrat will erst alle aktuellen Zahlen haben und seine Fragen beantwortet wissen. Von daher kann die Informationsverweigerung der Geschäftsleitung ausnahmsweise für die Beschäftigten auch etwas Gutes haben: Jeder Monat länger bis zur Schließung bedeutet für sie einen Monat länger in Lohn und Brot.
“neues deutschland”, 13.5.2016, Seite 3
Quelle: https://www.neues-deutschland.de/artikel/1011770.in-kloetze-gehen-die-lichter-aus.html