»Nur einen Ehegatten von Armut entfernt«

DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach über Rente, Frauen und das Arbeiten im Kollektiv

Sie waren Bundestagsabgeordnete für die Grünen, Abteilungsleiterin der Gewerkschaft IG BAU und sind heute DGB-Vorstandsmitglied. Was war denn ihre erste Gewerkschaft?
Das war ab 1978 die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr, eine der ver.di-Gründungsorganisationen. Ich hatte einen studentischen Hilfskraftjob an der Geschichtsfakultät der Uni Bielefeld. Für mich war immer klar, dass die Gewerkschaft ein Ort ist, an dem Solidarität organisiert wird und Leute sich zusammenschließen, damit sie nicht gegeneinander ausgespielt werden. Deshalb war der Eintritt für mich keine Frage.

Stammt das schon von den Eltern?
Die Wurzeln in der Arbeiterbewegung, ja – direkt in den Gewerkschaften weniger. Mein Vater war Schuhmachermeister und nach dem Krieg Mitglied in der Gewerkschaft Leder. Damals hat die Gewerkschaft noch direkt kassiert, und irgendwann hat er die Nachricht bekommen, dass sie wegen fünf Mitgliedern nicht mehr nach Leichlingen kommen würden – der kleine Ort in der Nähe von Köln, in dem ich groß geworden bin – und dass damit seine Gewerkschaftsmitgliedschaft leider erlöschen würde. Aber beide Großväter waren Scherenschleifer, politisch aktiv, beispielsweise beim Bau von Fußballplatz und Freilichttheater am Naturfreundehaus. Meine Mutter und meine Oma haben ihre Lehre im Konsum gemacht, meine Mutter hat da auch lange Jahre gearbeitet.

War bei Buntenbachs die Arbeit auch Thema am Frühstückstisch?
Sicher. Ich gehöre mit meiner Schwester zur ersten Generation, die in meiner Familie die Chance hatte, Abitur zu machen und zu studieren. Übrigens: die dritte Generation von Frauen, die eine Ausbildung machen konnte. Nicht ganz typisch für die Zeit, zeigt aber, dass der Hintergrund der Familie die Arbeiterbewegung ist. Die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass die Nazis die Macht übernahmen, haben wir genauso diskutiert wie soziale Gerechtigkeit und Verteilungsfragen. Dass zu wenige Arbeiterkinder Zugang zu Ausbildung und Universität haben und damit die Chance auf ein besseres Leben, war eines der großen Themen. Meine Eltern haben sich ein Bein ausgerissen, damit das bei uns funktionieren konnte – wohl wissend, dass es um ein gesellschaftliches Problem geht, das sie nicht alleine auf ihre Schultern nehmen konnten.

Sie waren Antifa-aktiv, haben ein Setzereikollektiv mit gegründet, sind 1982 in die Grünen eingetreten, was Sie 1994 in den Bundestag brachte. Woher kam die Entscheidung fürs Parlament?
Den ersten Schritt ging ich über die Bunte Liste in Bielefeld, ein Zusammenschluss von Initiativen, die für den Stadtrat kandidiert haben. Die Stadt war ja das bundesweit größte Sanierungsgebiet. Für mich ging es damals im Stadtrat auch wesentlich darum, Neonazistrukturen der Nationalistischen Front in Bielefeld etwas entgegenzusetzen. Außerdem habe ich die Gewerkschafts-AG bei der Bunten Liste mitgegründet. Als die Diskussion um die Einschränkung des Asylrechts Anfang der 1990er Jahre aufkam, hat mir das große Sorge gemacht und ich habe begonnen, mich in Richtung Bundestag zu bewegen. Vielleicht kann ich mich auf dieser Ebene engagieren, war mein Gedanke. Aber ich war in den 1970er Jahren schon politisch aktiv, beispielsweise gegen den Abtreibungsparagrafen 218. Letztlich komme ich bei der Frage an, wie gewerkschaftliches Arbeiten und Denken und feministische Themen zusammenfließen.

Auf einen Punkt gebracht? Was ist das politische Ziel von Annelie Buntenbach?
Der rote Faden ist, dass man sich dagegen zusammenschließen muss, wenn Menschen in erpressbare Lebenslagen gebracht werden, wenn ihre Würde verletzt zu werden droht – bezogen auf die Selbstbestimmung über den eigenen Körper und Abtreibungsverbote, aber auch bezogen auf Gewalt und Demagogie von der extremen Rechten oder im Arbeitsleben.

Sie haben nach dem Lehramtsstudium ein Staatsexamen abgelegt, sind aber nicht Lehrerin geworden. Warum?
Ich wollte selber nicht. Aber ehrlich gesagt war meine Fächerkombination Geschichte und Philosophie in einer Zeit richtig hoher Lehrerarbeitslosigkeit in den 1980er Jahren auch keine wirkliche Option. Von daher habe ich mir früh Gedanken über Alternativen gemacht. Wir haben dann die Setzerei aufgemacht. Das war eine spannende Geschichte und hat mich mehr gereizt, als über Umwege, mit Teilzeit und Vertretungen, doch noch in den Schuldienst zu gehen. Ich bin froh, dass ich das gemacht habe.

Wie waren denn die Arbeitsbedingungen im Setzereikollektiv, gemessen an dem eigenen gewerkschaftlichen Anspruch?
Die Arbeitsbedingungen waren sicherlich nicht vorbildlich. Aber es hat Spaß gemacht, mit anderen zusammen die Arbeit organisieren und spannende Projekte machen zu können. Wir haben alles gesetzt: von Handbüchern für die Kommunalpolitik und Materialien für das Welthaus in Bielefeld über die alternative Wochenzeitung »Stadtblatt« bis zu Büchern. Wir konnten in Bielefeld Fuß fassen – bis uns die technische Entwicklung letztlich den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Aber auch das haben wir überstanden. Wenn ich zum Beispiel mit französischen Freunden unterwegs bin, fällt es mir immer schwer zu erklären, was denn ein Setzer oder eine Setzerin eigentlich ist, weil es den Beruf so gut wie gar nicht mehr gibt. Aber es war über Jahre hinweg eine spannende Arbeit, auch wenn nicht immer kalkulierbar war, wo die nächste Überstunde anfallen würde.

Das Setzerinnenhandwerk haben Sie sich selber beigebracht?
Durchaus mit Anleitung von erfahreneren KollegInnen, aber ich habe keinen Facharbeiterbrief gemacht. Das ist sicherlich nicht im Sinne der Erfinderin, aber ich wollte in Zeiten des Fotosatzes nicht von der Pike auf noch Bleisatz lernen, was damals noch zum Berufsbild gehörte.

Ab 2002 waren Sie Abteilungsleiterin Sozialpolitik der IG BAU. Wie kam es dazu?
Nach dem Studienjob bin ich in der Setzereizeit zunächst in die IG Druck und Papier eingetreten, die dann in die IG Medien überging. Im Bundestag war ich ab 1994. Nach den Abstimmungen zum Afghanistan-Krieg im November und Dezember 2001 und als die Hartz-Gesetze am Horizont auftauchten, hatte ich mich entschieden, 2002 nicht wieder für den Bundestag anzutreten. Der damalige IG-BAU-Vorsitzende und SPD-Abgeordnete Klaus Wiesehügel hat mich angesprochen, ob ich die Sozialpolitik bei der IG BAU machen will. Der inhaltliche Hintergrund war, dass ich als Bundestagsabgeordnete Mitglied im Arbeits- und Sozialausschuss war und mich mit Themen wie Schlechtwettergeld auf dem Bau, Entsenderichtlinie und Bekämpfung von Lohn- und Sozialdumping auskannte. Der Wechsel in die IG BAU war für mich ausgesprochen spannend.

Von den Interviewpartnerinnen in dieser Serie sind Sie die einzige, die keine Funktionen in der Frauen- und Gleichstellungspolitik hatte.
Ich habe immer sehr eng mit Gleichstellungsbeauftragten zusammengearbeitet oder denjenigen, die Gleichstellungspolitik zu ihrem unmittelbaren Anliegen gemacht haben. Das ist ein unglaublich wichtiges Politikfeld, das beackert werden muss. Ich habe meine Prioritäten aber anders gesetzt. Bildlich gesprochen: In einer Zeitung habe ich es nicht so mit der Frauenseite, die Themen gehören in die ganze Zeitung, in jeden Artikel.

Was hat denn die aktuelle Rentendebatte mit Geschlecht zu tun?
Eine Menge. Die Rente ist die Quittung für ein ganzes Erwerbsleben – das Brennglas, in dem sichtbar wird, welche Wege man gegangen ist oder gehen musste, aber auch, was während des Erwerbslebens schiefgegangen ist. Da spielt die Lohndiskriminierung von Frauen am Arbeitsmarkt eine Rolle – 70 Prozent im Niedriglohnbereich sind Frauen. In prekären Beschäftigungsverhältnissen, insbesondere in Minijobs ist der größte Teil Frauen. Und es sind Frauen, die Erwerbsunterbrechungen haben, weil bei ihnen nach wie vor die Familienverpflichtungen abgeladen werden. So haben viele Frauen keinen Zugang zu einer eigenständigen sozialen Absicherung, sondern die läuft über den Partner. Viele Frauen sind im Alter nur einen Ehegatten von der Armut entfernt.

Das beginnt lange vor der Rente …
Es sieht doch so aus, dass wir noch immer keine Lohngerechtigkeit haben, sondern einen Gender-Pay-Gap von 21 Prozent. Zusammen mit der prekären Beschäftigung prägt das ein Arbeitsleben. Und nach diesem Arbeitsleben gehen die Beschäftigten in eine Rente, die seit Jahren immer weiter zusammengekürzt wird, und die auch noch weiter sinken wird, wenn die Politik nicht umsteuert. Das heißt aber auch, dass wir an der Art und Weise, wie Frauen im Arbeitsleben gefördert werden, welche Chancen sie haben, dringend etwas ändern müssen.

Zum Beispiel?
Wie wird mit Kindern umgegangen? Wie wird in der Pflege so mit den Menschen umgegangen, dass sie ihre Würde behalten können? Da geht es um wichtige gesellschaftliche Aufgaben, die aber miserabel bezahlt werden und teilweise unter knochenbrecherischen Bedingungen stattfinden. Und das sollen die Bereiche sein, die uns am Wichtigsten sind? Das ist doch absurd! Das muss anders werden, da braucht es eine Aufwertung. Gerade Pflege und Erziehung sind Bereiche, in denen sehr viele Frauen arbeiten.

Was hieße ein konkretes Umsteuern seitens der Politik?
Bei der Rente kommt in den Jahren 2020/21 ein richtig dickes Problem auf uns zu. Wenn sich nichts ändert, kommt ein großer Beitragssatzsprung, und gleichzeitig sinkt das Rentenniveau weiter – es gibt also keine besseren Leistungen, die dem gegenüberstehen, im Gegenteil. Spätestens dann kann ich mir gut vorstellen, dass neoliberale Wirtschaftswissenschaftler mit Forderungen nach einem weiteren Absenken der gesetzlichen Rente, Forderungen nach weiteren Leistungskürzungen um die Ecke kommen; mit der Begründung, dass das alles nicht mehr bezahlbar wäre. Deswegen fordern wir, dass jetzt umgesteuert wird , die Rentenbeiträge in kleinen Schritten bis 2020 kontinuierlich angehoben werden, damit es eben nicht zu unkontrollierten Beitragssprüngen ohne Leistungsverbesserungen kommt.

Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) sagt, es sei »gemeinsame Aufgabe, das Vertrauen in die Alterssicherung zu stärken, wir brauchen eine Haltelinie«. Das heißt?
Unser Vorschlag für eine Haltelinie ist, das gesetzliche Rentenniveau von heute sofort zu stabilisieren, langfristig muss das Rentenniveau angehoben werden. Gleichzeitig muss jetzt eine Demografiereserve aufgebaut werden. Gesamtgesellschaftliche Ausgaben wie die sieben Milliarden Euro für die Mütterrente pro Jahr dürfen nicht aus der Rentenkasse bezahlt werden, sondern müssen aus Steuermitteln finanziert werden. Als nächstes müssen die Beiträge in verkraftbaren kleinen Schritten angehoben werden. Damit verschaffen wir uns Zeit, nicht nur um das Rentenniveau zu stabilisieren, sondern auch um die Weichenstellungen für die Zukunft der Rentenversicherung vorzubereiten.

Wie hoch muss der künftige Rentenbeitrag sein?
Für uns ist entscheidend, dass wir von dem Tunnelblick wegkommen, der sich allein auf den Beitragssatz richtet. Wir können uns doch nicht andauernd über den Rentenbeitrag streiten und gleichzeitig zulassen, dass die Rente immer tiefer in den Keller geht. Deswegen müssen wir andersherum, auf die Leistungsseite der Rente gucken, also auf das, was am Ende herauskommt. So haben wir als DGB unsere Rentenkampagne angelegt, denn: Was nutzt mir eine Versicherung, die billig ist, aber mit der ich, wenn der Versicherungsfall eintritt, nicht über die Runden komme? Die Panikmache beispielsweise durch das Institut der Wirtschaft, wie viele Millionen es den Kleinverdiener koste, wenn wir die Rentenhöhe stabilisierten, wird in dem Moment entlarvt, in dem man sich anschaut, was das konkret an Mehraufwand pro Monat bedeutet, wenn die Lasten gerecht und paritätisch verteilt werden, und was man am Ende dafür bekommt – nämlich ein stabiles Rentenniveau.

neues deutschland, 24.10.2016, Seite 2
Das Interview ist enthalten im Interviewband Arbeiten und Feminismus, der im März im VSA: Verlag erschienen ist.