“Wir haben den Gestaltungsauftrag”

Rund 250 Metallerinnen und Metaller diskutierten in Chemnitz über die Arbeitszeit. Es ging nicht nur um die 35-Stunden-Woche, sondern auch um mehr Verfügungsgewalt über die eigene Zeit und eine Humanisierung des Schichtarbeit.

Von Jörg Meyer

Zur Arbeitszeitkonferenz nach Chemnitz hatten die Geschäftsstellen Chemnitz, Leipzig und Zwickau geladen. Unter dem Motto „Zeiten wenden!“ diskutierten am Dienstag 250 Metallerinnen und Metaller. Zum Auftakt sprach Stefan Kademann, Erster Bevollmächtigter in Zwickau. Die drei Geschäftsstellen machten zusammen rund 42 Prozent der Mitglieder im Bezirk Berlin-Brandenburg-Sachsen aus, so Kademann. „Daraus leiten wir einen Gestaltungsanspruch ab“, und der soll jetzt mit der Diskussion um die Arbeitszeit auch eingelöst werden. Die Chemnitzer Konferenz sei Ergebnis der fünfjährigen auch kontroversen Debatte darüber, wie in Zukunft mit der Arbeitszeit umgegangen werden soll und welche gewerkschaftlichen Forderungen sich daraus ableiten. „Letztlich hat unsere Diskussion auch zu dem eindeutigen Ergebnis in der Beschäftigtenbefragung geführt – die Beschäftigten wollen weniger Arbeiten, sie wollen über ihre Arbeitszeit mitbestimmen können. „Wir führen heute nicht mehr die Debatte ob wir das angehen, sondern wie wir das angehen“, sagte Kademann.

Wie das konkret aussehen kann, skizzierte Bernd Kruppa, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Leipzig. „Wir tragen Verantwortung für das, was wir tun auch für das, was wir nicht tun“, sagte er zu Beginn seines Vortrages. Die Geschäftsstellen stünden zu ihrer „historischen Mission“, die soziale Einheit beziehungsweise die tarifliche Angleichung von Ost und West endlich zu erreichen.

„Die weitere Verkürzung der Arbeitszeit ist notwendig“, sagte Kruppa weiter. Dabei gehe es um eine gesamtgesellschaftliche Debatte, „in der es auch Gegner gibt“. Doch es gebe das eindeutige Mandat aus der Beschäftigtenbefragung, das Thema anzugehen. Allein in Leipzig haben sich 7100 Beschäftigte, davon 38 Prozent Nicht-Organisierte, beteiligt.

Ein mögliches Szenario sei, so Kruppa, das bis Ende März 2018 der Manteltarifvertrag, der die Arbeitszeit regelt, fristgerecht zu Ende Juni des Jahres gekündigt wird. Es könne durchaus sein, dass man nicht den „klassischen Weg“ gehe, so Kruppa weiter: Tarifvertrag kündigen, Forderungen aufstellen, und wenn die Arbeitgeberseite nicht mitspielt, flächendeckend zum kollektiven Arbeitskampf aufrufen. Vielmehr sei es denkbar, dass es ein Modell der unterschiedlichen Geschwindigkeiten geben könnte. Das heißt: Eine „Ergänzungstarifgemeinschaft“ könnte mit gut organisierten Betrieben einen neuen Manteltarifvertrag durchsetzen, dem dann nach und nach, je nach Stärke und eigenem Diskussionsstand, andere Betriebe beitreten können.

In der Wahrnehmung nach außen und auch in die IG Metall hinein müsse vermieden werden, dass der Eindruck aufkomme, es stritten bloß die gut organisierten ostdeutschen Autobauer, die ohnehin schon gut verdienten und die niedrigste Arbeitszeit im Osten hätten. „Es gilt das Prinzip der solidarischen Tarifpolitik: Die Großen stehen für die Kleinen ein“, so Kruppa. Das Thema Arbeitszeit müsse Querschnittthema in der gesellschaftlichen Debatte werden, das nicht bloß den Osten angeht. Schichtplangestaltung, Zeit für Weiterbildung sowie die Vereinbarkeit von Arbeit, Leben und Familie – all das sind keine „ostdeutschen“ Probleme.

Olivier Höbel, Bezirksleiter Berlin-Brandenburg-Sachsen, sagte: „Wir haben heute im Bezirk Betriebe, die zu den produktivsten in Deutschland und teilweise in ganz Europa zählen. Die Beschäftigten verstehen nicht, warum sie auch nur eine Stunde länger arbeiten sollten als ihre Kolleginnen und Kollegen im Westen.“ Eine „Öffnungsklausel nach oben“ sei durchaus denkbar und auch machbar, nachdem es seit den 1990er Jahren in Tarifverträgen immer wieder Öffnungsklauseln zum Nachteil der Beschäftigten gegeben habe. Neben der Arbeitszeitverkürzung, der in Ost und West eine unterschiedliche Wichtigkeit beigemessen wird, wollten die Beschäftigten auch mehr Mitbestimmung über ihre Arbeitszeit: „Kein Mensch, keine Beziehung und keine soziale Verpflichtung hält auf Dauer ein Mehrschichtsystem über sechs Wochentage aus.“ Dass es sich hierbei um ein gesundheitsschädigendes Modell handele, sei erwiesen, so Höbel.

Mit Blick auf die kommende weiteren Diskussionen bis zur Tarifrunde 2018 sagte er weiter: „Die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite haben eine beidseitige Ordnungsfunktion, was die Regelung der Arbeitsbedingungen angeht.“ Auch darum rate er den Arbeitgebern dringend, „die Stimmung in den Betrieben aufzunehmen und unsere Forderungen ernst zu nehmen. Fakt ist: Wir wollen die 35-Stunden-Woche.“

Thomas Knabel, Zweiter Bevollmächtiger der Geschäftsstelle Zwickau, stellte die Auswertung der Beschäftigtenbefragung für Chemnitz, Leipzig und Zwickau vor, aus der die IG Metall ihr Mandat für die Tarifrunde 2018 ableitet. Die Ergebnisse sind eindeutig: Die Zufriedenheit der Kolleginnen und Kollegen sei dort höher, wo ihre tatsächliche Arbeitszeit mit der vertraglich festgelegten übereinstimmt, wo sie über die Verteilung der Arbeitszeit selbst mitbestimmen können und wo der Arbeitseinsatz planbar sei, so Knabel. Auf der anderen Seite sinke die Zufriedenheit bei überlangen Arbeitszeiten oder wenn die Schichtpläne bis ins Wochenende reichten. 63 Prozent der Befragten im Bezirk finden eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit „wichtig“ – auch wenn es dadurch zu Entgelteinbußen kommt. Sogar 84 Prozent der Befragten in den drei Geschäftsstellen sprachen sich für ein Arbeitszeitgesetz aus, das der Arbeitszeit deutliche Grenzen setzt.

Wie divers die Diskussion ist, zeigte der Ökonomieprofessor Heinz-Josef Bontrup von der Westfälischen Hochschule mit seinem Vortrag. Er vertritt seit Jahren die Forderung nach einer 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich. An den Gewerkschaften kritisierte Bontrup, dass sie mit der Arbeitszeitpolitik lange Zeit die zweite Säule, neben der Lohnpolitik, „die das Dach der Tarifpolitik trägt“, vernachlässigt hätten.

Die Ursache dafür, dass das Kapital seit Jahren „in der Vorhand ist“, sei die Massenarbeitslosigkeit. „Die Gewerkschaften müssen endlich wieder dazu übergehen, diese Ursache zu bekämpfen. Sonst sind sie überflüssig“, kritisierte Bontrup. Die Massenarbeitslosigkeit sei der Knüppel, mit dem die Beschäftigten ebenso wie die Arbeitslosen diszipliniert würden. „Wenn sie das nicht angehen, werden wir auch weiterhin Umverteilungsorgien erleben“, sagt der Professor, der seit bald vier Jahrzehnten Mitglied der IG Metall ist.

Die Zeit läuft. Nach der Bezirkskonferenz in Frankfurt (Oder) steht am 27. Juni bereits die Arbeitszeitkonferenz IG Metall in Mannheim an. Am 24. Oktober will die IG Metall auf Bundesvorstandsebene ihre Forderungen für die Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie beschließen, bevor am 4. November in Zwickau der Tarifauftakt folgt.

Zum Ende der Konferenz fasste Mario John, Erster Bevollmächtiger in Chemnitz, den Tag zusammen. Die Ideen aus Sachsen sollen nun auch in die Mannnheimer Konferenz getragen werden. “Wir haben lange diskutiert, jetzt wollen wir die Durchsetzung vorbereiten“, sagte John.

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