Wer wird gerettet und wer nicht? Diese Frage hat in den letzten Wochen die Gemüter bewegt und für teils scharfe, teils angstbesetzte Debatten gesorgt. Es geht um die Triage, die Sortierung von Patientinnen und Patienten, wenn die Behandlungsressourcen knapp werden. Die Frage ist aber auch: Wie gehen Menschen, die so schwere Entscheidungen treffen müssen, damit im Anschluss um?
Von Jörg Meyer
Schon bevor in Deutschland die Fallzahlen der mit dem SARS-CoV-2-Virus Infizierten und Erkrankten in die Höhe schnellten, war das Gesundheitssystem in Norditalien an seine Grenzen gestoßen. Es waren nicht ausreichend Intensivbetten und Beatmungsgeräte für schwer Erkrankte verfügbar. Die Ärztinnen und Ärzte mussten auswählen, wer die lebensrettende Behandlung erhielt und wer nicht. Das führte dazu, dass Menschen auf Krankenhausfluren starben, weil für sie kein Platz mehr auf den Intensivstationen war.1
Die Debatte um die Triage, die Sortierung von Patientinnen und Patienten unter Bedingungen knapper Ressourcen, ist nicht neu. In der Militärmedizin ist das Sortieren von Verwundeten seit dem 16. Jahrhundert bekannt. Der russische Chirurg Nikolai Iwanowitsch Pirogow entwickelte auf Basis seiner Erfahrungen unter anderem im Krimkrieg (1852 bis 1856) ein System der »Krankenzerstreuung«. Das beinhaltete den organisierten Transport von Verletzten, nachdem sie von Ärzten gesichtet und ihre Verletzungen nach Schweregrad sortiert wurden.2 Die zu Grunde liegenden Kriterien sollten auch in den Kriegen danach das Überleben möglichst vieler Verletzter gewährleisten – immer mit Blick auf die (Wieder)Verwendbarkeit für den militärischen Einsatz.
Die Debatte um die Triage wurde in Deutschland in den 1980er Jahren mit einiger Schärfe geführt. Stein des Anstoßes war das »Gesetz zur Anpassung des Gesundheitssystems an den Verteidigungsfall«, dessen Entwurf 1979 Elemente der Katastrophenmedizin enthielt – darunter eine Pflichtfortbildung für Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte und Apotheker3, zu der die Triage gehörte.
Gegner sahen die Triage so als nicht von ihrer militärischen Logik zu lösende Auswahl von Menschen nach Verwendbarkeit an. »Von der führenden Ärzteschaft wurde sie demgegenüber als ›ethisch bitter‹, aber doch einwandfrei und notwendig erachtet. Grausamer und schlimmer als Triage ist keine Triage.«4
Ärztinnen und Ärzte stehen vor ethisch schwersten Entscheidungen, wenn sie über Leben und Tod von Menschen entscheiden. Eine Entscheidung, die dem Berufsethos von Ärztinnen und Ärzten, Leben zu schützen, widerspricht.
Angesichts der Corona-Krise hat unter anderem die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) im März Empfehlungen herausgegeben (und im April aktualisiert), nach denen Triage-Entscheidungen getroffen werden sollen. Diese Empfehlungen verschiedener Fachverbände stellen einen Katalog medizinischer Indikationen dar. Sie orientieren sich zuvorderst »am Kriterium der medizinischen Erfolgsaussicht«.5
Das kritisierte unter anderem das Forum behinderter Juristinnen und Juristen (FbJJ) scharf. Kriterien wie Gebrechlichkeit oder Komorbidität würden in der Bewertung herangezogen. Damit würden Menschen mit Behinderungen diskriminiert, denn Entscheidungen über die Erfolgsaussicht einer Intensivtherapie könnten auf Fehleinschätzungen beruhen.6 Menschen mit Behinderung hätten kaum eine Chance auf eine lebenserhaltende Behandlung, kritisierten die Grünen. Doch der Forderung nach einer rechtlichen Regelung der Triage erteilte die Bundesregierung eine Absage.
Es kommen schon lange verschiedene Triage-Systeme in Deutschland zum Einsatz, wie Renate Demharter beschreibt.7 Deren Bewertungskriterien beruhen auf medizinischen und damit naturwissenschaftlichen Beurteilungen. Das ist letztlich folgerichtig. Die Medizin sei in ihrem Kern ein deskriptiv-faktisches Fach, schreibt Alexander Brech.8 Die Medizin kann beschreiben, ob eine Behandlung erfolgversprechend ist, doch wessen Behandlung nun die wichtigere ist – oder worin der Erfolg besteht –, dem liegen normative Annahmen zugrunde.9
Ethische und belastbare Prinzipien ergeben sich jedoch bereits aus den Standesordnungen der Ärzteschaft. Die konkrete Ausgestaltung einer gesetzlichen Regelung scheint schwierig. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass kein Menschenleben gegen ein anderes aufgewogen werden darf. Doch die Entscheidungen müssen getroffen werden. Es ist ein Dilemma, und es geht um Entscheidungen, die medizinisches Personal stark belasten. Wie traumatische Entscheidungen oder Einsätze sich verarbeiten lassen, das beschreibt Johannes Lewek in seinem persönlichen Beitrag aus der Sicht eines Notfallseelsorgers.
Derzeit sieht es nicht danach aus, als würden Triage-Entscheidungen im Rahmen der Pandemie nötig werden, sagt Uwe Janssens. Die Debatte um rechtliche Regelungen und ethische Entscheidungsgrundlagen dürfte damit aber nicht vom Tisch sein.
Zuerst erschienen in der Ausgabe 5/20 der Zeitschrift “Soziale Sicherheit” im Bund-Verlag.