Von Jörg Meyer
Die AOK meldete Ende April, dass der Krankenstand in der Pflege in den vergangenen elf Jahren um mehr als 44 Prozent gestiegen sei. Noch nie waren Beschäftigte in der Pflegebranche so oft krankgeschrieben wie im Jahr 2022. Laut der aktuellen Analyse der Arbeitsunfähigkeitsdaten des AOK-Bundesverbandes haben sich drei von vier Arbeitnehmer:innen 2022 mindestens einmal krankgemeldet. Sie fielen an 8,8 Prozent aller Arbeitstage aus. Im Jahr 2021 lag diese Zahl bei 7,2 Prozent, im Jahr 2010 bei 6,1 Prozent. Der Anstieg in den vergangenen elf Jahren liegt damit bei 44,2 Prozent, heißt es in einer Mitteilung der AOK vom 26. April. Gründe für den extremen Anstieg sieht die Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes in den gestiegenen Anforderungen an die Pflege. Dazu kämen die Belastungen durch den andauernden Personalmangel. Beides zusammen geht auf die Gesundheit der Beschäftigten.
Nach und nach werden die Langzeitfolgen der Corona-Pandemie sichtbar. Der Rekord bei den Krankenständen in der Pflegebranche ist nur ein Teil davon, und zeigt, dass in einem System, das ohnehin an vielen Stellen auf Kante genäht ist, weitere Belastungen an den Rand des Zusammenbruchs führen können. In der letzten Ausgabe hatten wir beispielsweise über eine aktuelle Studie zum gestiegenen Burnout-Risiko im Bereich der Sozialen Arbeit berichtet. Auch die sogenannte Pflegekrise ist ein wiederkehrendes Thema seit Jahren1 Dazu gehören die Gesundheitsrisiken durch die permanente physische und psychische Belastung im Pflegeberuf.
Anlass der eingangs erwähnten Analyse der AOK war der Welttag für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz. Der ursprünglich „Worker’s Memorial Day“ genannte Tag, ist ein internationaler Gedenktag für bei der Arbeit getötete, verstümmelte oder verletzte sowie erkrankte Lohnarbeiter:innen und wird jährlich am 28. April begangen. Er geht auf eine Initative der kanadischen Gewerkschaft für Beschäftigte im öffentlichen Dienst von 1984 zurück. Seit der Anerkennung durch die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) der Vereinten Nationen ist es der Welttag für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz, um die Wichtigkeit von guten Arbeitsbedingungen besonders hervorzuheben. Der Tag wird von vielen Gewerkschaften aber nach wie vor unter seinem historischen Titel als Gedenktag begangen.
Aus gutem Grund: Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) meldete im März ihre vorläufigen Zahlen zu Arbeitsunfällen und Berufserkrankungen 2022. Danach sei die Zahl der bei der Arbeit tödlich Verunglückten um 83 gegenüber dem Vorjahr auf 427 gesunken und auch die Zahl der Wegeunfälle mit Todesfolge sank gegenüber 2021 um 16 auf insgesamt 234. Die Zahl der Anzeigen auf Verdacht einer Berufskrankheit blieb gegenüber dem Vorjahr annähernd gleich – außer bei den COVID-19-Erkrankungen, die mit rund 369.000 Anzeigen 2022 und rund 226.600 Anzeigen im Jahr 2021 drastisch gestiegen ist.
Die DGUV betonte zum diesjährigen Tag der Arbeitssicherheit, wie wichtig es innerhalb des Anspruchs aller Beschäftigten auf eine gesunde und sichere Arbeitsumgebung sei, dass diese auch vor psychischen Belastungen schütze. Beispielsweise besteht die arbeitsschutzrechtliche Pflicht, im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung in einem Betrieb die psychischen Belastungen zu berücksichtigen. So steht es im seit 1996 geltenden Arbeitsschutzgesetz. Jedoch dürfte es noch immer nicht eine Mehrheit der Betriebe sein, die das auch umsetzt.
Zahlen dazu, wie viele Berufskrankheiten auf psychische Erkrankungen zurückgehen, gibt es nicht, weil psychische Erkrankungen in Deutschland nicht als Berufskrankheiten anerkannt sind. Zu schwierig ist die Abgrenzung beziehungsweise die Überprüfung, ob eine psychische Erkrankung wie beispielsweise eine der zahlreichen Diagnosen, die mit Burnout in Zusammenhang stehen, aufgrund der Arbeit entstanden ist. Zu schwierig ist es überdies zu überprüfen, wenn jemand beispielsweise an einer Depression erkrankt, ob diese auf Arbeitsstress oder Probleme im persönlichen Umfeld oder beides zurückzuführen ist.
Zu schwierig also auch die Feststellung, ob der hohe Krankenstand beim Pflegepersonal auch Beschäftigte abbildet, die aufgrund ihrer Arbeit wegen psychischer Erkrankungen wie Depressionen oder Belastungsstörungen ausgefallen sind. Das ändert indes nichts an der Tatsache, dass durch Stress oder hohe psychische Belastung verursachte Erkrankungen seit Jahren schon nach Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems und Atemwegserkrankungen eine der am häufigsten auftretenden Diagnosegruppe darstellen.2
Schlechte Arbeitsbedingungen und andauend hohe Belastung führen zu immer mehr Erkrankungen und dazu, dass sehr viele Beschäftigte ihrem Beruf in der Pflege bereits den Rücken gekehrt haben. Das verschärft den Personalmangel, und das erhöht wiederum die Belastung für diejenigen, die noch in der Branche arbeiten.
Zwei der für Arbeitnehmer:innen wichtigsten Jahrestage liegen kurz hintereinander: Am 28. April wird der verunfallten, verunglückten oder als Folge ihrer Arbeit erkrankten Kolleg:innen gedacht, am 1. Mai, dem Internationalen Tag der Arbeit wird für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen demonstriert. Beides ist notwendig.
Zuerst veröffentlicht in SozSich 5/2023, S. 176ff.
www.bund-verlag.de/zeitschriften/soziale-sicherheit
- Vgl. z. B. Jörg Meyer: „Hohes Burnout-Risiko in der Sozialen Arbeit“, in SozSich 4/2023, S. 154; Anne-Katrin Wehrmann: „Großes Potenzial, großer Handlungsbedarf“, in SozSich 7/2022, S. 265. ↩︎
- Vgl. zB. Hans Nakielski: „Psychische Belastungen bei der Arbeit: Die Folgen für die Kranken- und Rentenversicherung und die volkswirtschaftlichen Kosten“, in SozSich 9/2017, S. 319. ↩︎