Europa ist hier, nicht woanders

Die EU-Bürgerdialoge machten Ende Oktober Station an der Europa-Universität Viadrina und erklärten Bekanntes verständlich

Von Jörg Meyer, Frankfurt (Oder)

Der Abend begann mit einem Fluch. «Mögest du in interessanten Zeiten leben», sagte Bundesarbeitsminister Huberts Heil. Der SPD-Politiker zitierte einen «chinesischen Segenswunsch», der aber eher als Verwünschung verstanden wird. Diese «interessanten Zeiten» sind Zeiten von Krieg, Krisen, Wirrungen und Irrungen – als Gegensatz zu verstehen etwa zu «Mögest du ein schönes Leben in Frieden haben». Der Minister schlussfolgert denn auch an diesem Montag in Frankfurt (Oder), kurz nach der Rückzugsankündigung von Kanzlerin Angela Merkel und einen Tag nach der Hessen-Wahl, bei der CDU und SPD die nächste herbe Niederlage erlitten: «Insofern sind wir alle gesegnet, weil wir widersprüchliche Zeiten haben und politisch sehr aufgeregte Zeiten.»

Heil diskutierte in der Europa-Universität Viadrina mit der Juraprofessorin Eva Kocher und interessierten Bürgerinnen und Bürgern über die Wirksamkeit europäischer Arbeits- und Sozialpolitik. Kocher ist Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Europäisches und Deutsches Arbeitsrecht. Es ist einer der «EU-Bürgerdialoge», die auf eine Idee des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zurückgehen, der vor einem Jahr vorgeschlagen hatte, die Menschen in Europa nach ihrer Meinung zum Zustand der Union zu fragen. Ihre Wünsche und Kritiken sollten dann in künftige Politik einfließen.

Die «handfeste Krise der europäischen Idee», von der auch Hubertus Heil sprach, habe zu der Verabredung geführt, das direkte Gespräch zu suchen. Die nächsten Wahlen zum EU-Parlament stehen im Mai 2019 an. Zu befürchten steht, dass sich der Rechtsruck, der in vielen Staaten zu beobachten ist, auch bei dieser Wahl niederschlagen wird. Dem wollen die amtierenden Regierungschefs und Ministerinnen etwas entgegensetzen. Bei dieser Station vertrat Heil die Bundesregierung, zuvor war oft Bundeskanzlerin Angela Merkel selbst zu Gast.

Knapp 100 Menschen sitzen im Logensaal der Viadrina. Das Publikum scheint überwiegend aus der Universität zu kommen, viele Studierende und Unibeschäftigte sind da. Eine junge Frankfurterin, die Jura an der Viadrina studiert hat, ist «sehr gespannt». «Worum es hier geht, betrifft ja perspektivisch alle Menschen in Europa, die unter 65 Jahre alt sind und arbeiten.» Außerdem hat sie von Heil als Minister bisher wenig mitbekommen und will ihn nun einmal live erleben.

Mit Eva Kocher sitzt eine ausgewiesene Expertin zum Thema auf dem Podium. Die «Doppelstadt» Frankfurt-Slubice und diese Uni, so sagt sie, seien der richtige Ort für einen EU-Bürgerdialog. «Slubfurt» stehe explizit für eine offene innereuropäische Grenze. «Hier findet jeden Tag ganz praktisch europäisches Leben statt, europäisches Arbeiten, europäisches Studieren.» Europa sei nicht «woanders», in Brüssel, sondern vor Ort, in den Städten und Gemeinden.

«Die EU und auch die Mitgliedsstaaten haben lange Zeit gebraucht, um etwas ganz Grundlegendes zu lernen. Nämlich, dass grenzüberschreitendes Arbeiten bei gleichzeitig sehr unterschiedlichen Lohnniveaus und Lebenshaltungskosten Gefahren mit sich bringt – und zwar Gefahren für den Arbeitnehmerschutz, denen begegnet werden muss.» Der europäische Binnenmarkt sei zu lange als ein Vorwand für den Abbau von Mitbestimmung und Rechten verstanden worden. Doch die EU biete gute Regelungen, auf die sich Beschäftigte beziehen könnten.

Grundsätzlich unterschiedlicher Meinung sind die Juristin und der Politiker nicht. Heil legt einen Schwerpunkt auf die Wichtigkeit der Tarifbindung, was zunächst eher nach einem nationalen Problem klingt. Dass diese immer weiter sinkt und die Unterschiede zwischen den Einkommen in Deutschland immer größer werden, sieht der Minister jedoch als ernstzunehmende Gefahr für den sozialen Frieden nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa.

Vieles liegt im Argen. Eine gemeinsame europäische Sozialpolitik ist schwach ausgeprägt, vergleichbare soziale Sicherungssysteme existieren nicht, Arbeitsbedingungen und Einkommen variieren stark. Dass es hierzulande allgemeinverbindliche Branchenmindestlöhne nach dem Arbeitnehmerentsendegesetz gibt, die für alle in Deutschland Arbeitenden gelten, ist eine gute Sache, doch bringt das wenig, wenn nicht auch mit Kontrollen dafür gesorgt wird, dass sie eingehalten werden.

Ist angesichts dessen das bedingungslose Grundeinkommen auf europäischer Ebene eine Lösung? Das zumindest ist die erste Frage aus dem Publikum. Für sich hat der Mann seine Frage offenkundig schon entschieden, er ist gut vorbereitet und hat die entsprechende Forderung auf sein T-Shirt gedruckt. Landen kann der Grundeinkommensfan damit bei Kocher und Heil jedoch nicht. Heil verweist auf Wirtschaftsfunktionäre wie Siemens-Chef Joe Käser, die das Grundeinkommen ebenfalls forderten. «Das lässt mich hellhörig werden. Die machen das ja nicht aus Menschenliebe.» Er vermute eher, dass Unternehmen die gut ausgebildeten Fachkräfte haben wollen, «und den Rest soll der Staat füttern». Da erwarte er mehr soziale Verantwortung der Wirtschaft. Überdies bedeute Arbeit für sehr viele Menschen in erster Linie soziale Teilhabe. Eva Kocher findet, «bedingungslos» sei das falsche Wort, wenn man über Verteilungsgerechtigkeit sprechen will. Sie persönlich wolle wegen ihrer Stellung ein bedingungsloses Grundeinkommen gar nicht haben dürfen. Zudem sei es wichtig, mit Blick auf die vielen Probleme, an Lösungen für die gesamte EU zu arbeiten und nicht in einem Staat ein Grundeinkommen einzuführen.

Die EU-Bürgerdialoge sollen die europäische Idee stärken.

Der nächste Frager will wissen, wie lange es dauere, bis der EU-Mindestlohn eingeführt sei. Heil macht ihm da nicht viel Hoffnung. «Das ist keine Frage von Wochen», sagt der SPD-Mann, sondern müsse Thema bei den anstehenden Europawahlen werden. Grundsätzlich ärgert ihn, dass Politiker immer zunächst die EU-Institutionen erklären müssten, bis sie zu den Sachthemen kommen. Auch für eine einheitliche EU-Arbeitslosenversicherung sieht er in den nächsten fünf bis zehn Jahren keine Chance. «Es wäre ein Riesenschritt, wenn wir es hinbekommen, dass überhaupt alle EU-Mitglieder eine Arbeitslosenversicherung haben.»

Doch das geht nicht nur von Brüssel aus. «Sozial- und Arbeitspolitik wird wesentlich von unten gestaltet – zum Beispiel mit Tarifverträgen», sagt Eva Kocher. «Die Gewerkschaften waren immer ein Garant für soziale Innovationen.»

Als nächstes setzt sich eine Frau vom polnischen Sozialrat aufs Podium, das ist eine Nichtregierungsorganisation, die in Deutschland arbeitende polnische Beschäftigte berät und unterstützt. Sie vermisst vor allem Kontrollen. Scheinselbstständigkeit sei ein großes Problem, beklagt sie. «Ausländische Arbeitskräfte werden in Deutschland diskriminiert, wo bleibt da Europa? Pro Jahr arbeiteten rund 500 000 Arbeitskräfte aus Polen hier in der Pflege. Wie viele davon in Schwarzarbeit gedrängt werden, wüssten sie nicht.

Heil antwortet, er sitze mit dem Gesundheits- und Familienministerium zusammen, um »sanften Druck« auf die Arbeitgeber auszuüben, damit diese einen Tarifvertrag abschließen, »den ich dann allgemeinverbindlich erklären kann«. Das sei ein konkreter Vorschlag. Heil sagt aber auch, er könne »nicht an jeden Betrieb einen Zollbeamten stellen«. Vielmehr brauche es starke Gewerkschaften und eine hohe Tarifbindung. Ein ärgerlicher Satz, denn die zu geringe Kontrolldichte ist seit Jahren Gegenstand von gewerkschaftlicher Kritik. Eva Kocher weist darauf hin, dass es zwar Änderungen zum Guten im Arbeitnehmerentsendegesetz gegeben habe, sich in der Praxis aber wenig geändert hat. Sie schlägt vor, endlich ein Verbandsklagerecht einzuführen, also die Möglichkeit, dass Gewerkschaften gegen Verstöße klagen können.

Und ist die Europäische Arbeits- und Sozialpolitik nun ein »zahnloser Tiger«, wie es im Titel der Veranstaltung hieß? Nach dem Abend in Frankfurt lautet die Antwort: im Prinzip ja. Meist liegt es daran, dass die Einhaltung bestehender Regeln zu wenig kontrolliert wird – Beispiel Mindestlöhne. Andere Regeln existieren auf EU-Ebene, aber sie finden in den Mitgliedsstaaten schwer Anwendung, etwa grundlegende Mitbestimmungsrechte, gegen die sich im aktuellen Konflikt in Deutschland Ryanair mit Händen und Füßen wehrt.

Bis März 2019 finden weitere Veranstaltungen statt, von Kiel bis Passau und von Neuzelle über Pirna bis Stuttgart; rund 150 Bürgerdialoge sollen es allein in Deutschland werden. Heil sieht die Diskussionen auch als Vorbereitung auf die EU-Ratspräsidentschaft, die Deutschland ab 2020 übernimmt.

Zum Wahlkampfthema für 2019 taugt die EU-Arbeitsmarktpolitik allemal. Doch es müssen konkrete Vorschläge und Ergebnisse her, damit auch das Vertrauen in die als fern empfundenen Brüsseler Institutionen wächst.

 

Zuerst erschienen in “neues deutschland” am 1. November 2018